Verfassungsrechtliche Grundlagen




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_12


12. Verfassungsrechtliche Grundlagen



Johannes Koranyi 


(1)
Landgericht Bonn, Wilhelmstr. 21-23, 53111 Bonn, Deutschland

 



 

Johannes Koranyi




12.1 Ausgangslage



12.1.1 Die Patientenverfügung in der verfassungsrechtlichen Ordnung


Gemäß § 1901a Abs. 1 S. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) handelt es sich bei einer Patientenverfügung um die schriftliche Festlegung eines einwilligungsfähigen Volljährigen, ob er für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. Bereits diese Legaldefinition bringt zum Ausdruck, dass die Bestimmungen zur Patientenverfügung auf dem Gedanken gründen, dass es der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen unterfällt, selbst über die Inanspruchnahme oder Nichtinanspruchnahme medizinischer Hilfe zu entscheiden.

Die so umschriebene Patientenautonomie beinhaltet das Recht zur Ablehnung oder zum Abbruch auch solcher gesundheitsfördernder Maßnahmen, die aus medizinischer Sicht indiziert sind und deren Verweigerung für Außenstehende daher unverständlich erscheinen mag (BVerfGE 128, S. 304).

Auch unterfällt es dem Selbstbestimmungsrecht von Patienten, antizipierende Entscheidungen zu treffen, die erst dann Berücksichtigung finden sollen, wenn es zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Beeinträchtigung ihrer Willensentschließungsfreiheit kommen sollte (Albers 2008, S. 19; Otto 2006, S. 2219).

Über die verfassungsrechtliche Verankerung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten besteht im Ausgangspunkt Einvernehmen, liegt doch dem Grundgesetz erkennbar eine freiheitliche Konzeption zugrunde, nach der es prinzipiell allein dem Bürger obliegt, über sein Leben, seine Gesundheit und den eigenen Sterbeprozess zu entscheiden, ohne sich Anderen gegenüber rechtfertigen zu müssen (Kreß 2009, S. 70). Nicht abschließend geklärt ist indes die exakte dogmatische Verortung des Selbstbestimmungsrechts, wobei teilweise das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) (Hufen 2001, S. 850 f.; Ludyga 2010, S. 267; Wietfeld 2012, S. 67), teilweise das in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankerte Recht auf Leben in seiner „negativen Ausprägung“ in den Vordergrund gerückt werden (Pieroth et al. 2013, Rn. 419). In welchem Umfang die divergierenden Begründungsansätze tatsächlich mit unterschiedlichen Auslegungsergebnissen einhergehen, kann an dieser Stelle freilich noch offen bleiben (vertiefend Abschn. 12.2.2.1). Denn dass sämtliche der vorstehend benannten zentralen Grundrechtspositionen durch den Komplex der Patientenverfügung betroffen sein können, steht außer Frage, wobei sich die Gewichtung am jeweiligen Einzelfall orientiert.

Die Herleitung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten aus zentralen Verfassungspositionen belegt, dass die 2009 erfolgte Verankerung der Patientenverfügung im BGB nicht Ausdruck des dem Gesetzgeber zustehenden Gestaltungsspielraums, sondern Konsequenz der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entwickelten Wesentlichkeitstheorie ist. Diese geht von einer Pflicht des Parlamentsgesetzgebers aus, sämtliche „für die Ausübung von Grundrechten wesentlichen Fragen“ einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage zuzuführen (BVerfGE 33, S. 158 ff.; 47, S. 83). Verstärkt wird dieser Befund, wenn man berücksichtigt, dass noch weitere grundrechtliche Gewährleistungen durch Entscheidungen betroffen werden können, welche die Vornahme oder Nichtvornahme möglicherweise lebenserhaltender medizinischer Behandlungsmaßnahmen zum Inhalt haben. Dies gilt namentlich für die von Art. 4 GG gewährleistete Religions- und Gewissensfreiheit sowie den in Art. 6 GG verankerten besonderen Schutz von Ehe und Familie, der in Konstellationen zum Tragen kommen kann, in denen ein Familienangehöriger selbst nicht mehr in der Lage ist, sein Selbstbestimmungsrecht eigenverantwortlich auszuüben (Wietfeld 2012, S. 30, 119 ff., 122 ff.). Dabei ist in grundrechtsdogmatischer Hinsicht darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber durch die Normierung der Voraussetzungen und Wirkungen einer Patientenverfügung den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen kein neues, d. h. zuvor nicht bestehendes Recht eingeräumt hat. Vielmehr kann durch die im BGB enthaltenen einfachgesetzlichen Bestimmungen das bereits grundrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht lediglich konkretisiert und weiter ausdifferenziert werden. Dementsprechend stellt sich aus verfassungsrechtlicher Perspektive auch nicht die Frage, ob es mit den Gewährleistungen des Grundgesetzes in Einklang steht, wenn ein auf Unterlassung medizinischer Maßnahmen gerichteter Patientenwille auch dann beachtet wird, wenn die medizinische Behandlung geeignet wäre, den Sterbevorgang aufzuhalten oder zu verzögern (Hufen 2009, S. 28). Vielmehr verhält es sich umgekehrt so, dass einfachgesetzliche Bestimmungen, die Fallkonstellationen normieren, in denen eine vorhandene Patientenverfügung nicht zu berücksichtigen ist, einen Eingriff in diejenigen Grundrechte begründen, die im Umfeld autonomer Patientenentscheidungen zum Tragen kommen. Entsprechendes gilt für die auf der Grundlage entsprechender Vorschriften getroffenen Entscheidungen, die dazu führen, dass eine vorhandene Patientenverfügung nicht berücksichtigt wird. Liegt nach diesen Maßgaben ein Eingriff in grundrechtliche Gewährleistungen vor, hat dies jedoch nicht unmittelbar zur Folge, dass die betroffenen einfachgesetzlichen Vorschriften bzw. einzelfallorientierten Entscheidungen als verfassungswidrig einzustufen sind. Vielmehr ist entsprechend der allgemeinen Grundrechtslehren von einer Grundrechtsverletzung nur dann auszugehen, wenn der festgestellte Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts keiner Rechtfertigung zugänglich ist.


12.1.2 Grundrechtsadressaten


Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht, also sämtliche Träger öffentlicher Gewalt. Das individuelle Selbstbestimmungsrecht sowie die weiteren vorstehend skizzierten Grundrechtspositionen sind daher nicht nur von den Organen der Legislative bei der Verabschiedung von Gesetzen zu berücksichtigen, die den Komplex medizinischer Behandlung zum Gegenstand haben. Vielmehr sind insbesondere die Gerichte auch dann an die Grundrechte gebunden, wenn der von ihnen zu beurteilende Sachverhalt eine zivilrechtliche Rechtsbeziehung betrifft (Jarass 2012, Rn. 32, 34). Da Patientenverfügungen vorrangig in privatrechtlich ausgestalteten Arzt-Patienten-Verhältnissen relevant werden, stellt sich des Weiteren die Frage, ob und in welchem Umfang die Grundrechte auch für privatrechtliche Rechtsbeziehungen Geltung beanspruchen. Die Tätigkeit nicht hoheitlich agierender Ärzte, Pfleger und Einrichtungsträger bemisst sich primär nach den einschlägigen Bestimmungen des Arzt- und Medizinrechts, das weder eine unmittelbare Geltung der Grundrechte ausdrücklich anordnet, noch stillschweigend von einer solchen ausgeht. Allerdings ist der Gesetzgeber bereits bei der Kodifizierung einfachgesetzlicher Bestimmungen der Grundrechtsbindung unterworfen und ist deren Anwendung am Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung auszurichten (Pieroth et al. 2013, Rn. 101 ff.). Dies wirkt sich dahingehend aus, dass die Grundrechte auch in einem privatrechtlich ausgestalteten Arzt-Patienten-Verhältnis zumindest mittelbare Wirkung entfalten. Hintergrund ist der Umstand, dass die Grundrechte wesentliche gesellschaftliche Wertentscheidungen und Leitlinien zum Ausdruck bringen, die auf sämtliche Bereiche des Rechts ausstrahlen und bei der Rechtsanwendung zu beachten sind (Jarass 2012, Art. 1 Rn. 54 ff.).

Wenn die im Grundgesetz enthaltenen Bestimmungen vorgeben, dass der freiverantwortlich gefasste Patientenwille als verbindlich zu betrachten ist, gilt dies daher unmittelbar zwar nur für die staatlichen Grundrechtsadressaten der Legislative, Exekutive und Judikative. Zumindest mittelbar besteht die grundrechtliche Absicherung der Verbindlichkeit des Patientenwillens aber auch gegenüber Personen, die den Patienten aufgrund eines zivilrechtlichen Rechtsverhältnisses behandeln bzw. betreuen, da die Auslegung der für sie maßgeblichen Rechtsvorschriften durch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen geprägt wird.


12.2 Die maßgeblichen Grundrechtspositionen



12.2.1 Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)


Die Menschenwürdegarantie rangiert in Art. 1 Abs. 1 GG als oberster Verfassungswert (BVerfGE 115, S. 152), der infolge seiner Absolutheit keinerlei Einschränkungen zugänglich ist. In der Lesart des BVerfG erfolgt die Konkretisierung des Menschenwürdegehalts negativ nach der Objektformel, wonach eine Verletzung der Menschenwürde dann anzunehmen ist, wenn der Einzelne zum „bloßen Objekt des Staates“ gemacht, bzw. einer Behandlung ausgesetzt wird, „die seine Subjektsqualität prinzipiell in Frage stellt.“ (BVerfGE 87, S. 228; 109, S. 149 f.).

Angesichts der bereits angedeuteten Kontroverse um die zutreffende dogmatische Verortung des Selbstbestimmungsrechts entweder im allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder einer negativen Ausprägung des Rechts auf Leben wird die Menschenwürdegarantie im Zusammenhang mit Fragen aus dem Bereich der Patientenverfügung und Sterbehilfe zumeist nur am Rande erörtert (Kämpfer 2005, S. 177; Wietfeld 2012, S. 37 f.). Die in diesem Zusammenhang anzutreffenden Hinweise auf die Spezialität sonstiger grundrechtlicher Gewährleistungen bzw. die Schwierigkeit, in medizinischen Angelegenheiten eine eigene Schutzaussage der Menschenwürdegarantie neben dem Selbstbestimmungsrecht herauszuarbeiten (Kämpfer 2005, S. 177; Wietfeld 2012, S. 38), rufen jedoch zumindest dann Bedenken hervor, wenn hierdurch Art. 1 Abs. 1 GG eine eigenständige Bedeutung in Fragen der Reichweite von Patientenverfügungen gänzlich abgesprochen werden soll. Denn eine Beeinträchtigung der in jeder Phase des menschlichen Lebens gleichermaßen zu achtenden Menschenwürde droht gerade dann einzutreten, wenn eine Person selbst nicht mehr in der Lage ist, einer medizinischen Behandlung im Zeitpunkt ihrer Durchführung zu widersprechen. Insbesondere wird die Subjektsqualität des Einzelnen nachhaltig in Frage gestellt, wenn er gegen seinen vorab gebildeten und nach außen kundgetanen Willen in einen vegetativen Zustand versetzt wird, den er selbst als seiner Würde nicht entsprechend ansieht (Hufen 2009, S. 29).

Zumindest in denjenigen Konstellationen, in denen eine medizinische Behandlung dem freiverantwortlich gefassten und explizit geäußerten Willen des Patienten eindeutig widerspricht und dadurch in den Bereich einer Zwangsbehandlung rückt, ist sie daher nicht lediglich an den Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 1 und 2 GG, sondern auch an Art. 1 Abs. 1 GG zu messen. Die eigenständige Bedeutung der Menschenwürdegarantie ergibt sich hierbei aus ihrer absoluten Geltung, mit der es insbesondere nicht in Einklang stünde, den Patientenwillen unter dem Gesichtspunkt eines einseitig interpretierten Lebensschutzes zu übergehen (Hufen 2001, S. 851 f.).

Wie vom Bundesgerichtshof (BGH) zutreffend herausgearbeitet, ist der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG also durchaus ein Recht des Einzelnen auf ein Sterben in menschenwürdigen Bedingungen zu entnehmen (BGH NJW 2001, S. 1803 f.), das nicht grundsätzlich hinter das vorrangig in anderen grundrechtlichen Gewährleistungen verankerte Selbstbestimmungsrecht zurücktritt.


12.2.2 Grundrechtliche Verankerung und Inhalt des Selbstbestimmungsrechts


Im Zentrum der verfassungsrechtlichen Diskussion um die Reichweite und Einschränkbarkeit von Patientenverfügungen steht das Selbstbestimmungsrecht von Patienten, das in seinem Kernbereich besagt, dass medizinische Eingriffe und Behandlungen nur mit Einwilligung des Betroffenen ausgeführt werden dürfen (BGHZ 90, S. 105 ff.). Zwar ruft der Grundsatz, dass in ihrer Willensentschließungsfreiheit nicht beeinträchtigte Personen selbst darüber entscheiden dürfen, ob und welche medizinischen Maßnahmen an ihnen durchgeführt werden, im Ausgangspunkt keinerlei Widerspruch hervor, jedoch fällt das Votum weniger eindeutig aus, wenn die Ablehnung potenziell lebenserhaltender Maßnahmen im Raum steht. Vielmehr kann sowohl im rechtswissenschaftlichen Schrifttum als auch in der Spruchpraxis zumindest unterinstanzlicher Gerichte die Auffassung ausgemacht werden, die sog. objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte beinhalte auch einen Schutz der Grundrechtsträger vor sich selbst, so dass das Rechtsgut Leben unabhängig davon zu schützen sei, „ob derjenige, um dessen Leben es geht, diesen Schutz will“ (VG Karlsruhe NJW 1988, S. 1537). Die mehrheitlich vertretene Auffassung in Literatur und Rechtsprechung ging indes bereits vor der durch § 1901a BGB erfolgten Klarstellung davon aus, dass ein Schutz eines Menschen vor sich selbst durch Eingriffe in seine Grundrechte nicht legitim sei. Dementsprechend soll auch die Ablehnung medizinisch notwendiger und lebenserhaltender Maßnahmen zumindest dann verbindlich sein, wenn sie auf einer freiverantwortlich getroffenen Entscheidung beruht (BVerwGE 82, S. 48 ff.). Hiervon ausgehend wird nachfolgend zunächst die dogmatische Verankerung des Selbstbestimmungsrechts skizziert und anschließend dessen Reichweite und Einschränkbarkeit beleuchtet.


12.2.2.1 Herleitung


Hergeleitet wird die Dispositionsbefugnis über das eigene Leben teilweise aus einer negativen Grundrechtsfunktion von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, wonach die Vorschrift nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch ein Recht zur Beendigung des Lebens beinhalte (Fink 1992, S. 110; Pieroth et al. 2013, Rn. 419). Zwar kann dies dem Wortlaut der Bestimmung, wonach jeder „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ hat, nicht entnommen werden. Jedoch sei in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein grundrechtlich geschütztes Recht zur Untätigkeit in Bezug auf das eigene Leben hineinzulesen. Dieser Auffassung ist indes entgegen zu halten, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit dem menschlichen Leben keine zielgerichtete Handlung schützt, die einer negativen Ausprägung überhaupt zugänglich sein könnte (Wietfeld 2012, S. 63). Angesichts der erkennbar sachbezogenen Schutzrichtung der Vorschrift kann ihr daher ein unterlassungsfähiger Handlungscharakter bzw. eine negative Grundrechtsfunktion nicht zugesprochen werden (Schwabe 1977, S. 39; Wietfeld 2012, S. 64).

Dogmatisch überzeugend erscheint demgegenüber die Verortung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten in dem aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG herzuleitenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Dieses gewährleistet die engere persönliche Lebenssphäre sowie die Erhaltung ihrer Grundbedingungen, soweit diese durch die übrigen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes nicht hinreichend geschützt werden (BVerfGE 54, S. 153). Hierbei erstreckt sich der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts insbesondere auf den sozialen Geltungsanspruch und damit auf die Befugnis des Einzelnen, seine Identität eigenverantwortlich zu entwickeln (Hufen 2009, S. 30). Da auch die Disposition über die eigene körperliche Unversehrtheit Ausdruck des jedem Menschen zustehenden autonomen Bereichs privater Lebensgestaltung ist, fällt das Selbstbestimmungsrecht von Patienten in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Ludyga 2010, S. 267).


12.2.2.2 Auswirkungen der Dispositionsbefugnis über das eigene Leben auf die Beachtlichkeit von Patientenverfügungen


Zentrale Ausprägung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten ist die Gewährleistung eines grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf Unterlassung einer nicht ausdrücklich oder mutmaßlich gebilligten medizinischen Maßnahme (Albers 2009, S. 140; Kübler und Kübler 2008, S. 239). Steht fest, dass die Durchführung einer bestimmten Behandlung nicht dem Willen eines Patienten entspricht, ist seine Entscheidung daher sowohl für den Arzt als auch die etwaig mit dem Fall befassten Gerichte und sonstigen Träger staatlicher Hoheitsgewalt verbindlich. Insbesondere darf von einer schriftlich fixierten Patientenverfügung, der die Ablehnung einer bestimmten ärztlichen Behandlung zu entnehmen ist, von Verfassungswegen allenfalls dann abgewichen werden, wenn ihr Inhalt unklar ist oder Zweifel an ihrer Anwendbarkeit auf die konkrete Situation bestehen (Hufen 2009, S. 31).

Ob der Abfassung der Patientenverfügung eine detaillierte ärztliche Aufklärung vorangegangen ist oder nicht, spielt für deren Verbindlichkeit grundsätzlich keine Rolle. Denn das Selbstbestimmungsrecht des Patienten umfasst auch die Freiheit, nicht aufgeklärt zu werden (Sternberg-Lieben 2007, S. 328 f.; Verrel 2010, S. 23). Konsequenz des Selbstbestimmungsrechts ist darüber hinaus, dass der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Normierung der Voraussetzungen einer Patientenverfügung nicht frei über deren Wirkungen disponieren darf. Vielmehr ist er grundsätzlich an die Dispositionsbefugnis des Einzelnen über das eigene Leben gebunden und darf den autonom gebildeten Willen, aus dem Leben zu scheiden, nicht generell für unbeachtlich erklären (Hufen 2009, S. 31).

Als Ausfluss seines Selbstbestimmungsrechts steht es dem Patienten naturgemäß auch frei, seine Entscheidung hinsichtlich der Ablehnung einer bestimmten Behandlungsmaßnahme zu überdenken und zu revidieren und dementsprechend auch von einer schriftlichen Fixierung seiner ablehnenden Haltung wieder abzurücken. Erfolgt ein entsprechender Widerruf bzw. eine nach außen erkennbare Willensänderung, gilt die jeweils letzte Erklärung, soweit der Widerruf bzw. die Änderung ihrerseits wirksam erfolgt ist (Albers 2009, S. 140).


12.2.2.3 Beachtlichkeit auch des mutmaßlichen Willens


Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ist nicht an eine bestimmte Form und insbesondere nicht an eine schriftliche Fixierung gebunden. Vielmehr verhält es sich in einer Vielzahl medizinischer Normalfälle gerade so, dass der Patient von dem behandelnden Arzt über den voraussichtlichen Verlauf und die zu erwartenden Folgen einer bestimmten Behandlung informiert wird und hieran anschließend mündlich in die Behandlung einwilligt oder sie ablehnt (Dettmeyer 2006, S. 9). Stimmt der Patient der Behandlung zu und erfolgt bis zum Zeitpunkt der Behandlung auch kein Widerruf seiner Einwilligung, rechtfertigt diese sämtlichen ärztlichen Eingriffe, die sich in den durch die Einwilligung gezogenen Grenzen bewegen (Dettmeyer 2006, S. 9).

Insbesondere in medizinischen Notfällen, aber auch bei bewusstlosen oder sonst willensunfähigen Patienten, sehen sich Ärzte mit dem Problem konfrontiert, dass eine ausdrückliche Einwilligung des Betroffenen in einen (objektiv) gebotenen medizinischen Eingriff nicht bzw. nicht im Anschluss an eine umfassende Aufklärung über die zu erwartenden Folgen des Eingriffs eingeholt werden kann. Dies bedeutet indes nicht, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten in entsprechenden Konstellationen keinerlei Bedeutung zukäme und sich der Arzt bei der Entscheidung über die Behandlung allein an objektiven Kriterien der medizinischen Praxis orientieren dürfte (Kämpfer 2005, S. 212).

Vielmehr greift in dieser Konstellation das Institut der mutmaßlichen Einwilligung, wonach danach zu fragen ist, ob die ärztliche Behandlung im objektiv verstandenen Interesse des Patienten liegt und seinem wirklich geäußerten oder mutmaßlich anzunehmenden subjektiven Willen entspricht. (Hufen 2001, S. 852; Kübler und Kübler 2008, S. 237)

Auch der mutmaßliche oder konkludent zum Ausdruck gebrachte Wille eines Patienten fällt somit in den Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts und ist von den behandelnden Ärzten auch dann zu beachten, wenn er auf die Ablehnung einer zur Lebenserhaltung objektiv gebotenen Behandlungsmaßnahme abzielt.

Die Einbeziehung auch des mündlich oder konkludent geäußerten sowie des mutmaßlichen Willens in den Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts wirkt sich insbesondere auf die verfassungsrechtliche Bewertung solcher Vorschriften aus, die die Beachtlichkeit einer Patientenverfügung an bestimmte Formvorschriften, bspw. an die Einhaltung der Schriftform, knüpfen. Entsprechende Bestimmungen haben zur Folge, dass ein (nur) mutmaßlicher oder mündlich geäußerter, nicht aber schriftlich niedergelegter Patientenwille keine Berücksichtigung findet und begründen daher einen Eingriff in die grundrechtlich abgesicherte Patientenautonomie. Für die Frage der Rechtmäßigkeit der jeweiligen Formvorschrift kommt es folglich darauf an, ob sie unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben einer Rechtfertigung zugänglich ist (hierzu noch Abschn. 12.3.1).


12.2.2.4 Reichweite des Schutzbereichs


Die vom Selbstbestimmungsrecht gewährleistete Freiheit, autonom und auf der Grundlage eigener Wertvorstellungen über die Durchführung medizinischer Behandlungen zu entscheiden, setzt voraus, dass der Betroffene zur autonomen Willensbildung überhaupt in der Lage ist. Hieraus folgt, dass die Ablehnung einer medizinisch indizierten Maßnahme nicht am Schutz grundrechtlicher Gewährleistungen teilnimmt, wenn sie durch einen generell Einwilligungsunfähigen oder eine Person erklärt wird, die aktuell nicht in der Lage ist, Umfang und Reichweite der von ihr abgegebenen Erklärung zu überblicken (Knauf 2005, S. 23 f.). Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine Willensbekundung hinsichtlich der Durchführung medizinischer Behandlungen nur zu berücksichtigen ist, wenn der Betroffene auch im Zeitpunkt des medizinischen Eingriffs über hinreichende Einsichts- und Urteilsfähigkeit (s. Kap. 15) verfügt. Hiergegen spricht insbesondere, dass die grundrechtlich gewährleistete Patientenautonomie sich gerade auch darauf erstreckt, antizipierende Entscheidungen für den Fall zu treffen, dass zu einem späteren Zeitpunkt ein Zustand eintritt, in dem der eigene Wille nicht mehr geäußert werden kann (Albers 2008, S. 19; Otto 2006, S. 2219).Denn die frühzeitige Klarstellung, dass die Durchführung bestimmter medizinischer Maßnahmen mit den eigenen Wertvorstellungen nicht in Einklang steht und daher abgelehnt wird, verfolgt gerade den Zweck, eine diesem Willen widersprechende Behandlung auch in einem Zeitpunkt zu verhindern, in dem der Betroffene aufgrund der gravierenden Folgen einer Krankheit nicht mehr in der Lage ist, dem Eingriff ausdrücklich zu widersprechen (Hufen 2009, S. 32 f.).

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Verfassungsrechtliche Grundlagen

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