Strafrechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen von Patientenverfügungen




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_14


14. Strafrechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen von Patientenverfügungen



Ruth Rissing-van Saan 


(1)
Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, 44801 Bochum, Deutschland

 



 

Ruth Rissing-van Saan




14.1 Einleitung


Patientenverfügungen sind nicht nur aufgrund zivilrechtlicher oder betreuungsrechtlicher Erwägungen für die Zulässigkeit medizinischer Behandlungen am Lebensende eines Menschen von Bedeutung. Mit Rücksicht auf mögliche strafrechtliche Konsequenzen von ohne oder gar gegen den Willen eines Patienten durchgeführten ärztlichen Eingriffen oder unterlassenen medizinischen Maßnahmen sind sie zugleich wichtige Instrumente zur Wahrnehmung und Sicherung des Selbstbestimmungsrechts in Situationen, in denen die betroffene Person nicht (mehr) in der Lage ist, sich zu äußern. Gemeint sind Situationen, die sich plötzlich im alltäglichen Leben, auch junger Menschen, etwa infolge eines Unfalls oder eines Schlaganfalls ergeben können, wesentlich häufiger jedoch nach längeren Krankheiten oder am Lebensende eines älteren Menschen eintreten.

Nach der schon vom Reichsgericht 1894 (RGSt 25, S. 375 ff.) begründeten und seither ständigen strafrechtlichen Rechtsprechung stellt jede ärztliche Maßnahme, sei es ein operativer Eingriff, eine medikamentöse Behandlung oder eine somatisch-psychische Einwirkung auf einen Menschen, wie Betäubung, Bestrahlung usw., die mit einer auch nur vorübergehenden Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens oder der körperlichen Unversehrtheit des Betroffenen verbunden ist, rechtlich eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Körperverletzung (§ 223 StGB) und deshalb eine strafbare Handlung dar. Sie bedarf deshalb einer Rechtfertigung, bevor die Behandlung usw. vorgenommen werden darf. Die Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen folgt nicht schon von selbst aus der medizinischen Indikation für den Eingriff oder die Behandlung, sondern ergibt sich nach der Rechtsprechung erst aus der Einwilligung des Patienten (BGHSt. 11, S. 112; 35, S. 246 ff.).

Dem steht zwar ein großer Teil der strafrechtlichen Literatur, zumindest bei lege artis, d. h. nach den Regeln der ärztlichen Wissenschaft sach- und fachgerecht ausgeführten Heileingriffen, ablehnend gegenüber (Nachweise bei Lilie 2001, Vor § 223 Rn. 3 ff.). Die Rechtsprechung hält hieran aber nicht zuletzt deshalb fest, weil mit Hilfe der als Körperverletzung strafbaren ärztlichen Behandlungen, die gegen oder zumindest ohne den Willen des Betroffenen vorgenommenen wurden, jedenfalls mittelbar das Selbstbestimmungsrecht des Patienten geschützt werden kann (BGH NStZ 1996, S. 34 f.; Frister et al. 2011, S. 2 Rn. 4).


Selbstbestimmungsrecht

Das Selbstbestimmungsrecht ist selbst dann zu respektieren, wenn der Patient es ablehnt, einen lebensrettenden Eingriff zu dulden. Ungeachtet der Möglichkeit, ihn über die Chancen und Vorteile einer vom Arzt beabsichtigten und aus dessen Sicht medizinisch indizierten Behandlung aufzuklären und so unter Umständen einen Sinneswandel herbeizuführen, ist letztlich der Wunsch bzw. Wille des Patienten maßgeblich. Darauf, was aus ärztlicher Sicht, pflegerischer oder persönlicher Sicht nahestehender Personen sinnvoll oder erforderlich wäre, kommt es für sich genommen nicht an. Es gibt nach unserer Rechtsordnung keine Zwangsbehandlung und es gilt das strikte Verbot der ärztlichen Eigenmacht. Der Patientenwille geht grundsätzlich dem medizinischen Heilauftrag des Arztes vor. Auch aus medizinischer Sicht unvernünftig erscheinende Entscheidungen müssen akzeptiert werden, selbst dann, wenn das Unterlassen der abgelehnten Maßnahme den Tod des Patienten zur Folge hat (BGHZ 163, S. 197 f.).

Diese Grundsätze gelten nicht nur für Patienten, die zur Äußerung ihres Willens und zur verantwortlichen Entscheidung in der Lage sind, sondern ebenso für den Umgang mit schwerkranken, dementen oder aus sonstigen Gründen nicht mehr zu einer eigenverantwortlichen Lebensgestaltung fähigen oder in der konkreten Situation einwilligungsunfähigen Personen. Für sie gilt gleichermaßen das grundgesetzlich geschützte Recht eines jeden Einzelnen, in den von der Rechtsordnung vorgegebenen, allgemein gültigen Grenzen über sein Leben selbst bestimmen zu können. Das ist jedenfalls in der Vergangenheit nicht immer jedem Arzt, jeder Pflegekraft oder jedem Pflegeheim hinreichend klar geworden. Die medizinische Betreuung und Behandlung am Lebensende eines Menschen oder eines aktuell nicht artikulationsfähigen Patienten bedarf deshalb, wenn damit Eingriffe in das Wohlbefinden oder die körperliche Integrität des Betroffenen verbunden sind, neben einer medizinischen Indikation (s. Abschn. 20.6) für die Vornahme der Maßnahme stets auch der rechtlichen Grundlage, d. h. einer Rechtfertigung durch seine wirksame Einwilligung in die Behandlung.

In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die nicht immer einfach zu beantwortende Frage, wie die Entscheidung, ob der Patient in eine oder mehrere bestimmte medizinische Behandlungsmaßnahmen eingewilligt hat oder einwilligen würde, festgestellt und gegebenenfalls zur Geltung gebracht werden kann, wenn der Betroffene in der konkreten Situation selbst nicht in der Lage ist, seine Vorstellungen und seinen Willen zu artikulieren und durchzusetzen.


14.2 Patientenverfügungen


Einen Weg, für zukünftige Ereignisse und mit Kommunikationsunfähigkeit verbundene körperlich/geistige Zustände vorweg Willenserklärungen abzugeben, stellen Patientenverfügungen dar. Patientenverfügungen, d. h. für den Fall zukünftiger Einwilligungsunfähigkeit vorab im einwilligungsfähigen Zustand schriftlich festgehaltene Willensbekundungen über die Einwilligung in oder die Ablehnung oder Beschränkung von bestimmten medizinischen Maßnahmen und ärztlichen Behandlungen standen als Mittel der Verwirklichung von Selbstbestimmung am Lebensende schon seit vielen Jahren in der öffentlich geführten Diskussion (Schreiber 2006, S. 476 f.).

1.

Vor allem die Frage, ob Entscheidungen, die zukünftige schwere Erkrankungen oder das eigene Sterben betreffen, überhaupt antizipierbar sind und schon im Vorgriff – in gesunden Zeiten – verbindlich getroffen werden können, wurde lange Zeit unter Medizinern, Theologen und Juristen sowie Politikern kontrovers diskutiert. Zwar hatte bereits die strafrechtliche Rechtsprechung 1991 (BGHSt. 37, S. 378) und in der sog. Kemptener Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH aus dem Jahr 1994 (BGHSt. 40, S. 257) den aus früheren mündlichen Äußerungen abgeleiteten mutmaßlichen Patientenwillen für beachtlich erklärt, so dass gegen den festzustellenden mutmaßlichen Willen eine ärztliche Behandlung weder eingeleitet noch fortgesetzt werden durfte; außerdem hatte der XII. Zivilsenat des BGH im Jahr 2003 (BGHZ 154, S. 205) eine hinreichend konkrete Patientenverfügung als eigenständige, aus sich heraus wirksame Legitimationsgrundlage für Behandlungsbegrenzungen anerkannt.

 

2.

In der öffentlichen Wahrnehmung entstanden jedoch Unsicherheiten über die Reichweite einer erlaubten, auf der Grundlage einer Patientenverfügung vorgenommenen oder sonst auf dem Patientenwillen beruhenden Beendigung einer lebenserhaltenden medizinischen Behandlung. Das Problem der begrenzten Reichweite betraf die Frage, ob lebenserhaltende medizinische Behandlungen erst bzw. nur in der eigentlichen Sterbephase des betroffenen Menschen beendet werden dürfen oder auch schon früher. Der XII. Zivilsenat hatte nämlich – möglicherweise infolge eines Missverständnisses der Entscheidung des 1. Strafsenats aus dem Jahre 1994 – seine Entscheidung zur Bindungswirkung einer Patientenverfügung an die Voraussetzung geknüpft, dass das Grundleiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hatte, während der 1. Strafsenat noch betont hatte, dass es für die Zulässigkeit des dem mutmaßlichen Patientenwillen entsprechenden Abbruchs einer ärztlichen Behandlung gerade nicht darauf ankomme, ob der Sterbevorgang schon eingesetzt hat.

 

3.

Die dargelegten, sowie weitere, hier nicht näher interessierende betreuungsrechtliche Fragen, sind durch das am 1. September 2009 in Kraft getretene sog. Patientenverfügungsgesetz vom 29. Juli 2009 (Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts, BGBl I 2009, S. 2286) und die damit neu in das Gesetz eingestellten §§ 1901a ff. BGB zunächst einmal für das Zivilrecht verbindlich beantwortet worden. Nach § 1901a Abs. 3 BGB ist ein zulässiger Behandlungsabbruch nicht (mehr) auf die Phase der unmittelbaren Todesnähe beschränkt, sondern von Art und Stadium der Erkrankung unabhängig. Im Übrigen regelt dieses Gesetz in § 1901a Abs. 1 und Abs. 2 BGB abgestuft die Verbindlichkeit der schriftlichen Patientenverfügung und der auf andere Weise, insbesondere auch mündlich, geäußerten Behandlungswünsche und des mutmaßlichen Willens des Patienten, die von den an der medizinischen und rechtlichen Betreuung beteiligten Personen ebenfalls beachtet werden müssen

 


14.3 Die strafrechtlichen Grenzen des Selbstbestimmungsrechts


Das Patientenverfügungsgesetz und die neuen Bestimmungen der §§ 1901a ff. BGB haben die strafrechtlichen Grenzen der guten Sitten (§ 228 StGB) für die rechtfertigende Wirkung einer Einwilligung des Rechtsgutsinhabers und der Strafbarkeit einer Tötung auf Verlangen (§ 226 StGB), die auch für die körperliche Eingriffe legitimierende Einwilligung und damit für das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen gezogen sind, nicht aufgehoben (BT-Drs. 16/8442, S. 9).

Gerade in diesem Zusammenhang entstanden aber schon in der Vergangenheit nicht selten und entstehen auch heute noch aus Unkenntnis der rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen Ängste und Unsicherheiten bei Verwandten, Betreuern, Ärzten und Pflegepersonal, die befürchten, sich strafbar zu machen, wenn sie den Wunsch oder Willen ihres Angehörigen oder Patienten befolgen und sich deshalb scheuen, lebenserhaltende Maßnahmen zu begrenzen oder zu beenden oder aber eine mit dem Ziel der Leidensminderung vorgenommene wirksame Schmerztherapie aus Furcht vor möglichen, aber nicht gewollten Leben verkürzenden Komplikationen und deren strafrechtlichen Folgen nicht durchführen (Verrel 2007, S. 21).

Zu den Grenzen der guten Sitten bestimmt § 228 StGB: „Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“. Unter die generalklauselartige Begrifflichkeit der guten Sitten oder der Sittenwidrigkeit können heilende oder Leiden lindernde ärztliche oder pflegerische Tätigkeiten ersichtlich nicht fallen. Das ist allgemeine Meinung. Auch sonst ist am Wohl des Patienten orientiertes medizinisches Handeln nicht in Gefahr, als gegen die guten Sitten verstoßend eingeordnet zu werden (Frister et al. 2011, 1. Kap Rn. 41 ff.).

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Strafrechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen von Patientenverfügungen

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