Selbstverständnis der Beratung zu Vorsorgedokumenten




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_36


36. Selbstverständnis der Beratung zu Vorsorgedokumenten



Arnd T. May , Tatjana Grützmann  und Jörg C. Brokmann 


(1)
Ethikzentrum.de – Zentrum für Angewandte Ethik, Hohenzollernstr. 76, 45659 Recklinghausen, Deutschland

(2)
Modellstudiengang Medizin, Medizinische Fakultät der RWTH Aachen, Wendlingweg 2, 52074 Aachen, Deutschland

(3)
Notaufnahme, Uniklinik RWTH Aachen, Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen, Deutschland

 



 

Arnd T. May (Korrespondenzautor)



 

Tatjana Grützmann



 

Jörg C. Brokmann



Die Beratung zu Vorsorgedokumenten wie Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patientenverfügung erfordert neben Fachkenntnissen die Vorbereitung des eigenen Beratungsangebots. Ziel einer guten Beratung und einer gelungenen Auseinandersetzung mit Vorsorgedokumenten ist ein individuelles Dokument, das die differenzierte Meinungs- und Willensbildung des Ratsuchenden festhält.

Die Vielfalt der Anbieter von Beratungen zu Patientenverfügung offenbart die Chancen aber auch Risiken für einen nicht reglementierten Beratungsmarkt, bei dem keine verbindlichen Standards für die Beratung zu Patientenverfügungen existieren.

Während der rechtspolitischen Debatte zur Gesetzgebung wurde der Aspekt der nachgewiesenen Beratung als Wirksamkeitsvoraussetzung diskutiert. Anders als in Österreich ist eine ärztliche Beratung in Deutschland nicht zwingend wenngleich sinnvoll.

Zur Qualitätssicherung der Beratung zu Patientenverfügungen legte im Jahre 2005 eine Arbeitsgruppe Vorschläge zu Kernkompetenzen vor (May et al. 2005). Die Arbeitsgruppe nahm dabei nicht nur Ärzte, sondern generell fachkundige Personen als mögliche Berater in den Fokus.

Folgende Ziele der Beratung zu Vorsorgedokumenten sind in diesen Standards formuliert:



  • Über rechtliche, medizinische und ethische Aspekten zu informieren,


  • Meinungsbildungsprozesse anzustoßen,


  • Wünsche und Ängste zu ermitteln,


  • die Ernsthaftigkeit der Willensbekundung zu prüfen.

Unter Berücksichtigung dieser Ziele, kann die Stabilität der Patientenwünsche ermittelt und die Validität und somit die Verbindlichkeit der Patientenverfügung erhöht werden. Neben den fachlichen Aspekten kann im Gespräch bei Bedarf auch auf psychosoziale und familiäre Fragestellungen eingegangen und es können Tabuthemen wie „Alter“, „Krankheit“ und „Tod“ angesprochen werden. Berater müssen über zahlreiche Kenntnisse (medizinisch, rechtlich, ethisch, psychosozial) verfügen.

Die Kernkompetenzen für Berater umfassen folgende Themenfelder:





  • Formale Gesichtspunkte für die Erstellung einer Patientenverfügung


  • Kommunikative Kenntnisse und Fähigkeiten


  • Einstellungen und Haltungen/soziale Kompetenzen


  • Berücksichtigung von biographischen und familiären Gesichtspunkten


  • Ethische und rechtliche Gesichtspunkte der Instrumente der Vorsorge


  • Medizinische und pflegerische Gesichtspunkte

Eine Beratung zu Patientenverfügungen kann dazu dienen, dass Entscheidungen auf Basis von validen Informationen getroffen werden können und nicht Mythen, Fehlinformationen oder Vermutungen wichtige Entscheidungen beeinflussen.

Eine qualifizierte Beratung zu Patientenverfügungen erfordert neben fachlichen Standards und ethischen Grundsätzen auch „eine hohe persönliche und professionelle Kompetenz“, wozu u. a. „Achtung und Wertschätzung“ gehören (Deutsche Gesellschaft für Beratung e. V. 2010).

Die Beratung zu Patientenverfügung ist zudem eine Situation, in der ein Ratsuchender für einen sehr sensiblen Lebensbereich, in dem es um die Themen Krankheit, Sterben und Tod geht, um Unterstützung ersucht. Diese Themen beinhalten ein Sich-Auseinandersetzen mit der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit, daher ist es erforderlich, dass der Berater ein Umfeld schafft, in welchem der Ratsuchende sich öffnen und Vertrauen schöpfen kann. Berater müssen sich der weitreichenden existentiellen Folgen durch Festlegungen in einer Patientenverfügung bewusst sein (May et al. 2005, S. 334).

Oft ist der Auslöser für das Erstellen einer Verfügung auch, dass der Betreffende selbst erkrankt ist oder die Krankheit bzw. den Tod eines Nahestehenden unmittelbar erlebt hat. In diesem Fall ist das Thema Vorsorge für den Betroffenen häufig besonders emotional aufgeladen und bedarf eines sensiblen Umgangs. In jedem Fall ist eine fundierte und professionelle Beratung erforderlich, die über eine bloße Wissensvermittlung hinausgeht. Eine Didaktik der Beratung ist demnach essentiell und sollte auf diese besondere Situation zugeschnitten sein.


36.1 Beratungsauftrag




Die Bundesärztekammer fordert ihre Mitglieder dezidiert zur Beratung zu Patientenverfügungen auf. Aus Sicht der Bundesärztekammer erleben Ärzte „in ihrer täglichen Arbeit die Sorgen und Nöte schwer kranker und sterbenskranker Menschen und müssen in schwierigen Beratungssituationen Antworten auf existenzielle Fragen ihrer Patienten geben“ (Bundesärztekammer und Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2013, S. 1580).

Die Kenntnis des behandelnden Arztes zum Krankheitsbild, zu den möglichen Verläufen der Krankheit des Ratsuchenden und zu Therapieoptionen hilft diesem bei seiner Entscheidungsfindung. So definiert der Ratsuchende, je nach Schilderung der Krankheitsbilder und Verläufe, die Anwendungssituationen, auf die sich seine Patientenverfügung beziehen soll.

Dies wird auch ausdrücklich von der Bundesärztekammer gewünscht. In einem ärztlichen Beratungsgespräch „sollten die medizinischen Aspekte geklärt und Krankheitsbilder erörtert werden“ (Bundesärztekammer und Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2007, S. 893). Die Bundesärztekammer sieht Ärzte in der Pflicht, Beratungen zu Patientenverfügungen und sogar zu Vorsorgevollmachten zu leisten (Bundesärztekammer und Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2007, S. 894).


Fachkundige Beratung

Die Gesetzesbegründung verwendet nicht den Begriff der ärztlichen Beratung, sondern benutzt die Bezeichnung der „fachkundigen Beratung“ (BT-Drs. 16/8442, S. 14). Diese Bezeichnung ergibt sich aus der Tatsache, dass die Initiatoren des Gesetzes nicht zwingend von einer Beratung durch Ärzte ausgehen, sondern „es können auch Beratungsangebote von nichtärztlichen, im Umgang mit Patientenverfügungen erfahrenen Einrichtungen oder Personen in Anspruch genommen werden, das können beispielsweise fachkundige Verbände, Vertreter von Glaubensgemeinschaften oder Selbsthilfegruppen sein.“ (BT-Drs. 16/13314, S. 19).

Auf die Sinnhaftigkeit der Beratung weisen nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch eine Reihe von Institutionen und Organisationen hin, da eine qualifizierte Beratung dazu beitragen kann, die ärztlichen Maßnahmen, in die eingewilligt wird oder die untersagt werden, hinreichend genau zu beschreiben.

Wenngleich für die Bundesärztekammer die Initiative für ein Gespräch in der Regel dem Patienten überlassen bleiben soll, sieht die ärztliche Standesvertretung den Gesprächsimpuls über eine vorsorgliche Willensbekundung beim Arzt als Zeichen der Fürsorge, „wenn bei einer bevorstehenden Behandlung oder in einem absehbaren Zeitraum der Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und der Patient ohne Kenntnis von den Möglichkeiten der vorsorglichen Willensbekundung seine Sorge über den möglichen Zustand fehlender Selbstbestimmung angesprochen hat“ (Bundesärztekammer und Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2013, S. 1583).


Bundesärztekammer, ZEKO

Die Bundesärztekammer stellt gemeinsam mit der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer fest:

„So kann der Arzt beispielsweise über medizinisch mögliche und indizierte Behandlungsmaßnahmen informieren, auf die mit Prognosen verbundenen Unsicherheiten aufmerksam machen und allgemein über Erfahrungen mit Patienten, die sich in vergleichbaren Situationen befunden haben, berichten. Indem der Arzt den Patienten möglichst umfassend informiert, kann er zugleich Vorsorge gegen aus ärztlicher Sicht nicht gebotene Festlegungen des Patienten treffen, etwa indem er über Missverständnisse – z. B. über die sogenannte Apparatemedizin – aufklärt, Fehleinschätzungen hinsichtlich der Art und statistischen Verteilung von Krankheitsverläufen korrigiert und die Erfahrungen aus dem Umfeld des Patienten, an denen sich dieser orientiert und aus denen er möglicherweise falsche Schlüsse zieht, hinterfragt. Der Arzt darf dem Patienten nicht seine Sicht der Dinge aufdrängen. Er kann aber wesentlich dazu beitragen, die Meinungsbildung des Patienten zu verbessern und abzusichern. Er kann dem Patienten nicht nur das Für und Wider seiner Entscheidungen vor Augen führen, sondern ihm durch die Aufklärung auch Ängste nehmen.

In dem Dialog sollte der mögliche Konflikt zwischen den in gesunden Tagen geäußerten Vorstellungen und den Wünschen in einer aktuellen Behandlungssituation thematisiert werden. Dies gilt insbesondere für Festlegungen zu bestimmten Therapien oder zur Nichtaufnahme einer Behandlung in bestimmten Fällen.

Auch für den Patienten wird eine eingehende ärztliche Beratung vor der Abfassung einer vorsorglichen Willensbekundung von Vorteil sein.

Er kann vielfach erst bei Inanspruchnahme einer ärztlichen Beratung in der Lage sein zu entscheiden, welches der zahlreichen verfügbaren und inhaltlich unterschiedlichen Formulare seinen Wünschen am ehesten entgegenkommt und welche Formulierungen geeignet sind, seine persönlichen Vorstellungen hinreichend nachvollziehbar und umsetzbar niederzulegen. Zudem wird der Patient, wenn er sich ärztlich beraten lässt, die Wirksamkeit seiner Willensbekundungen dadurch erhöhen können, dass er die Situationen, in denen Behandlungsentscheidungen voraussichtlich anfallen, und die in diesen Situationen bestehenden Handlungsoptionen sehr viel konkreter beschreiben und damit das faktische ärztliche Handeln in weit größerem Umfang festlegen kann, als es ohne Beratung der Fall wäre. Dies gilt vor allem, wenn aufgrund einer diagnostizierten Erkrankung die voraussichtlichen Entscheidungssituationen und Behandlungsoptionen relativ konkret benannt werden können.

Der Dialog zwischen Patient und Arzt kann dazu beitragen, dass der Arzt, insbesondere der Hausarzt, ein differenziertes Bild vom Willen des Patienten erhält. Es empfiehlt sich daher, ihn bei der Ermittlung des Patientenwillens heranzuziehen, wenn in einer Vollmacht oder Patientenverfügung festgehalten ist, dass und mit welchem Arzt das Gespräch stattgefunden hat“ (Bundesärztekammer und Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2013, S. 1583)

Neben vielen nicht an Organisationen gebundenen Beratungsangeboten durch Hausärzte, Versicherungsmakler oder freiberufliche Vorsorgeberater bieten im Bistum Münster konfessionelle Einrichtungen (Krankenhäuser, Einrichtungen der stationären Altenhilfe) und ambulante Pflegedienste Beratungen an. Diese benennen einen „qualifizierten Ansprechpartner für die Beratung zu Patientenverfügungen“ mit Weiterbildungsverpflichtung (Ethik-Forum im Bistum Münster 2011, S. 19). Über das Beratungsangebot in den konfessionellen Einrichtungen und Diensten hinaus versteht das Ethik-Forum im Bistum Münster die „Beratung zu Vorsorgemöglichkeiten“ als eine „Aufgabe der Gemeindearbeit“ (Ethik-Forum im Bistum Münster 2011, S. 20).

Neben dem Beratungsangebot von Ärzten, fachkundigen Organisationen und Personen existieren in Deutschland auch zahlreiche weniger seriöse Angebote. In der Beratungspraxis ist es jedoch nicht ausreichend, lediglich über generelle Kenntnisse des Gesundheitswesens zu verfügen, sondern Berater müssen – auch „über feldunabhängige Beratungskompetenzen verfügen“ (Engel et al. 2007, S. 35)


36.2 Unterstützung durch Information oder Beratung?


Als Information gilt das Vermitteln von allgemeinen Sachverhalten an Ratsuchende. Eine Beratung muss auf individuelle Situationen und Einstellungen eingehen. Wenn Beratung als Hebammenkunst verstanden wird, dann bezieht sich dies auf die Eigenheit einer Beratung als strukturiertes Gespräch mit dem Ziel, eine Aufgabe oder ein Problem zu lösen oder sich der Lösung anzunähern. Je nach Selbstverständnis wird Beratung im Sinne von jemandem in helfender Absicht Ratschläge erteilen verwendet. Und gemäß dem Selbstverständnis der jeweiligen Beratung ist diese neutraler oder beeinflussender angelegt.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Selbstverständnis der Beratung zu Vorsorgedokumenten

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