Psychosoziale Beratung in der Kinderwunschbehandlung




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_41


41. Psychosoziale Beratung in der Kinderwunschbehandlung



Tewes Wischmann 


(1)
Institut für Medizinische Psychologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Bergheimer Str. 20, 69115 Heidelberg, Deutschland

 



 

Tewes Wischmann



Diese aktualisierte und erweiterte Übersicht basiert auf einem Beitrag des Autors in der Medizinischen Genetik (Heft 1/2001, S. 46–49). Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, München.




Die Situation ungewollt kinderloser Paare gerät in den letzten Jahren aufgrund neuer und teilweise auch umstrittener medizinischer Behandlungsmethoden zunehmend in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Zwar bleiben weniger als 9 % aller Paare dauerhaft ungewollt kinderlos, aber fast jede dritte Frau mit Kinderwunsch wartet länger als ein Jahr auf eine Schwangerschaft (Lebenszeitprävalenz). Es spricht vieles dafür, von einer Zunahme von Fertilitätsstörungen auszugehen. Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass in den westlichen Ländern die Realisierung des Kinderwunsches immer häufiger für ein späteres Lebensalter geplant wird.


41.1 Stand der Forschung zu psychologischen Aspekten bei Fertilitätsstörungen


Die frühe psychoanalytisch-psychosomatische Forschung betrachtete das Nichtschwangerwerden der Frau als Ausdruck ihrer unbewussten Abwehr. Es wurde angenommen, insbesondere die idiopathisch sterile Frau (ohne identifizierbare Ursache der Fertilitätsstörung) wehre sich unbewusst gegen ein Kind, häufig aufgrund ihrer Erfahrungen mit der eigenen Mutter. Diese Betrachtungsweise, die auch noch heutzutage bei einigen Autoren vorherrscht, ist unzureichend und in dieser Pauschalität falsch. Von einer verhaltensbedingten – und damit potenziell psychisch (mit-)bedingten – Fruchtbarkeitsstörung im engeren Sinne kann nur dann gesprochen werden, wenn ein Paar trotz seines Kinderwunsches und Aufklärung durch den Arzt weiter die Fertilität schädigendes Verhalten praktiziert bzw. die Konzeptionschancen nicht nutzt. Psychische Faktoren liegen auch dann vor, wenn ein Paar einer medizinisch indizierten Infertilitätsdiagnostik bzw. -therapie zwar zustimmt, sie aber nicht beginnt.

Als durchgängiger Befund der systematischen Forschung kann bisher nur als gesichert gelten, dass sich Frauen mit Fruchtbarkeitsstörungen depressiver und ängstlicher darstellen als die Norm und vermehrt körperliche Beschwerden angeben.

Diese Symptome sind überwiegend die Folge der Kinderlosigkeit und der Diagnosestellung Fruchtbarkeitsstörung. Nach psychologischer Beratung bzw. Psychotherapie stellt sich häufig eine Verbesserung der Grundbefindlichkeit – auch unabhängig vom Eintritt einer Schwangerschaft – ein. Systematische Studien zeigen nur sehr selten erhöhte Schwangerschaftsraten nach psychosozialer Intervention, da der weitaus überwiegende Teil (> 85 %) der Fertilitätsstörungen organisch bedingt ist. Nach dem heutigen Erkenntnisstand kann festgestellt werden, dass Paare mit unerfülltem Kinderwunsch nicht häufiger psychische Störungen aufweisen als Paare ohne Fruchtbarkeitsstörung. Dies gilt auch für Paare mit idiopathischer Infertilität, für langfristig ungewollt kinderlos gebliebene Paare und für die Entwicklung von Einlingskindern nach reproduktionsmedizinischen Maßnahmen – anders als höhergradige Mehrlinge, deren körperliche und psychische Entwicklung häufig beeinträchtigt ist – sowie deren Eltern-Kind-Beziehungen. Eine wissenschaftlich fundierte Kinderwunschberatung integriert diese entpathologisierenden Erkenntnisse in das Beratungskonzept (s. Leitlinie in Kentenich et al. 2014).


41.2 Psychosoziale Betreuungskonzepte bei unerfülltem Kinderwunsch


Bewährt haben sich Kooperationsmodelle, bei denen Reproduktionsmediziner mit entsprechend weitergebildeten psychosozialen Beratern z. B. auf der Grundlage eines Liaisondienstes (d. h. die fachärztliche Mitbetreuung im Auftrag des behandelnden Arztes) zusammenarbeiten. Exemplarisch für ein solches Kooperationsmodell sollen hier Inhalte der Beratung in der Heidelberger Kinderwunsch-Sprechstunde dargestellt werden:

Die Beratungsgespräche werden mit der Grundhaltung geführt, Kinderlosigkeit nicht als Ausdruck einer pathologischen Paarstruktur oder gar eines fixierten Kinderwunsches zu verstehen. Eine Fertilitätsstörung basiert auf einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge, bei dem psychische Faktoren eine Rolle spielen können.

Das Erleben einer Fertilitätsstörung stellt oft ein kritisches Lebensereignis dar, dessen Bewältigung bzw. Nicht-Bewältigung weitreichende Konsequenzen für die Identität, für die Paarbeziehung und für weitere Lebensbereiche haben kann.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Psychosoziale Beratung in der Kinderwunschbehandlung

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