Psychologische Evaluation und Beratung im Vorfeld einer Organ-Lebendspende




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_43


43. Psychologische Evaluation und Beratung im Vorfeld einer Organ-Lebendspende



Karl-Heinz Schulz  und Sylvia Kröncke 


(1)
Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie & Universitäres Transplantations-Centrum (UTC), Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistr. 52 W 26, 20246 Hamburg, Deutschland

 



 

Karl-Heinz Schulz (Korrespondenzautor)



 

Sylvia Kröncke




43.1 Organtransplantation und -lebendspende


Organtransplantationen stellen heute ein etabliertes Therapieverfahren für eine Vielzahl terminaler Erkrankungen dar. Im Jahr 2013 wurden in Deutschland 4.059 Organe übertragen (Niere: 2.272, Leber: 970, Herz: 313, Lunge: 371, Bauchspeicheldrüse: 128, Dünndarm: 5; Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) 2014).


Fortschritte in der Transplantationsmedizin

Dank weitreichender Fortschritte in der Organkonservierung, der chirurgischen Techniken, der intensivmedizinischen Versorgung und insbesondere der Entwicklung neuer immunsuppressiver (die körpereigene Immunabwehr hemmende) Medikamente zur Verhinderung der Organabstoßung konnten die Erfolge der Transplantationsmedizin stetig verbessert werden. Die postoperativen Patienten-Überlebensraten in Europa liegen derzeit nach einem Jahr für die Organe Niere und Bauchspeicheldrüse (Pankreas) bei etwa 95 %, für Herz und Leber bei 80–85 % und für die Lunge bei ca. 80 %. Nach fünf Jahren liegen die Überlebensquoten für Niere und Pankreas bei ca. 85–90 %, für Herz und Leber bei 70–75 % und für die Lunge bei ungefähr 55 % (Collaborative Transplant Study (CTS), www.​ctstransplant.​org, Grafik Nr. E-11112E-0814).

Je nach Transplantationszentrum, zugrunde liegender Erkrankung und Grad der medizinischen Dringlichkeit (Transplantation geplant oder als Notfall) bzw. dem Gesundheitszustand des Empfängers zum Zeitpunkt der Transplantation können die Erfolgsquoten noch deutlich besser ausfallen.

Mittlerweile besteht das Haupthindernis für die Durchführung von Transplantationen in der begrenzten Anzahl von Spenderorganen im Verhältnis zur stetig wachsenden Anzahl der Patienten, denen durch eine Transplantation geholfen werden könnte. Komplikationen und Todesfälle nach Transplantation sind oft eine Folge der langen Wartezeit und des damit verbundenen schlechten Gesundheitszustandes der Patienten zum Zeitpunkt der Transplantation. Eine steigende Anzahl von Patienten verstirbt bereits während der Wartezeit auf ein Organ. Im Jahr 2013 starben in Deutschland 965 Patienten, die auf der Warteliste für eine Organtransplantation erfasst waren (Rahmel 2014). Lediglich im Falle der Niere steht mit der Dialyse ein auf längere Dauer ausgelegtes Organersatzverfahren zur Verfügung, doch ist dieses mit erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität und gesundheitlichen Einbußen sowie einer erhöhten Sterblichkeit verbunden.


43.1.1 Nierenlebendspende


Vor der Verfügbarkeit moderner immunsuppressiver Medikamente stellte die Lebendspende zwischen eineiigen Zwillingen die einzig Erfolg versprechende Möglichkeit einer Organverpflanzung dar. So war die erste dauerhaft erfolgreiche menschliche Nierentransplantation 1954 eine Lebendspende. Die Lebendspende der Nieren hat in Deutschland seit den 1990er Jahren wieder an Bedeutung gewonnen. Dieses ist zum einen auf den Mangel an postmortalen Spenderorganen, die nach der Feststellung des Hirntodes entnommen werden, und die dadurch entstandenen langen Wartezeiten auf eine Fremdspende zurückzuführen. In Deutschland beträgt die durchschnittliche Wartezeit auf eine Spenderniere ca. 6–8 Jahre. Darüber hinaus ist die Nierenlebendspende im Vergleich zur postmortalen Spende mit besseren Ergebnissen verbunden (Schulz und Thaiss 2012). Die Fünf-Jahres-Transplantatfunktionsrate liegt im Falle der Lebendspende bei 87,5 %, und im Falle der postmortalen Spende bei ca. 71 % (DSO 2014). Nach einem Jahr leben noch etwa 98 % und nach fünf Jahren ca. 95 % der Empfänger einer Lebendspende (CTS, Grafik Nr. E-11112E-0814). Im Jahr 2013 wurden in Deutschland 725 Nieren von lebenden Spendern transplantiert, diese machten einen Anteil von 32 % an allen Nierentransplantationen aus (DSO 2014). Inzwischen sind durch Einsatz spezieller Behandlungsverfahren auch Blutgruppen-inkompatible Spenden möglich.


43.1.2 Leberlebendspende


Die Technik der Leberlebendspende, bei der die Leber des Spenders geteilt wird, stellt sich chirurgisch deutlich komplexer dar und wurde erst Ende der 1980er Jahre entwickelt, um dem Mangel an Spenderorganen im Bereich der Kindertransplantation zu begegnen. Bis zum Jahr 2001 stieg die Anzahl der Leberlebendspenden in Deutschland zunächst auf 95 (12,5 % aller Lebertransplantationen) an. 2013 wurden jedoch lediglich 83 Lebendspenden durchgeführt, was einem Anteil von 8,5 % an allen Lebertransplantationen entsprach (DSO 2014). Sowohl beim Spender als auch beim Empfänger wächst die Leber postoperativ – zwar anatomisch verändert, aber voll funktionsfähig – auf ihre ursprüngliche Größe zurück. Zunächst wurde dieses Verfahren nur bei Kindern angewandt, v. a. wegen der anatomisch ohnehin erforderlichen Leberteilung bei vorwiegend von Erwachsenen stammenden Spenderorganen. Inzwischen profitieren auch Erwachsene davon, die allerdings statt ca. 20 % bis zu 70 % des Organs des Spenders erhalten. Die Leberlebendspende für Erwachsene ist sowohl auf Spender- als auch auf Empfängerseite mit mehr operativen Komplikationen verbunden, dennoch stellt sie für manche Patienten die einzige realistische Option auf eine rechtzeitige Transplantation dar.


43.1.3 Lebendspende anderer Organe


Die Lebendspende der Lunge ist ebenfalls möglich, erfordert jedoch jeweils zwei Spender und wird bisher in Deutschland nicht routinemäßig praktiziert. Auch die Lebendspende von Teilen der Bauchspeicheldrüse sowie des Darmes wird nur in wenigen Zentren weltweit durchgeführt.


43.2 Gesetzliche Regelung der Lebendspende


Die Lebendspende ist gesetzlich reglementiert: Nach dem deutschen Transplantationsgesetz (TPG) von 1997, das zuletzt 2012 novelliert wurde, dürfen Organe lebender Spender nur übertragen werden auf „Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, eingetragene Lebenspartner, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen“ (§ 8 Abs. 1 S. 2 TPG). Eine Lebendspende ist demnach auch zwischen nicht-verwandten Personen möglich, dabei soll jedoch die Voraussetzung einer engen persönlichen Beziehung zwischen Spender und Empfänger einem möglichen Organhandel vorbeugen.


43.3 Ethische Aspekte und Konsequenzen für die Praxis


Das zentrale ethische Problem der Lebendspende liegt in der Gefährdung eines gesunden Spenders, der einer – für ihn selbst medizinisch unnötigen – Operation unterzogen wird, die potenziell sowohl körperliche als auch psychosoziale Schäden zur Folge haben kann. Die Durchführung einer Lebendspende widerspricht der Motivation des Arztes, den gesundheitlichen Interessen seines Patienten zu dienen. Zweifellos trägt der Spender bei dieser Operation keinen körperlich-gesundheitlichen Vorteil davon, sondern er gefährdet seine Gesundheit zum Wohle des Empfängers. Dabei stimmen Befürworter und Gegner darin überein, dass das Mortalitätsrisiko – und sei es noch so gering – bei jeder Lebendspende grundsätzlich gegeben und zu bedenken ist (Schulz und Koch 2005). Der Aufklärung über die Risiken der Operation sowie der Prüfung der Einsichtsfähigkeit und Informiertheit des Spenders wird daher eine besondere Bedeutung zugemessen (engl. informed consent „Einwilligung nach erfolgter Aufklärung“). Außerdem soll eine sorgfältige medizinische und psychologische Untersuchung die Risiken für den Spender minimieren. Um dies zu gewährleisten, existieren mittlerweile eine Reihe von nationalen und internationalen Leitlinien (z. B. Delmonico und Council of the Transplantation Society 2005; Barr et al. 2006).

Ein weiteres Problem der Lebendspende stellt die Beurteilung der Freiwilligkeit dar. Singer et al. (1989) geben drei Faktoren an, welche die freiwillige Entscheidungsfindung des Spenders einschränken können. So kann ein Verpflichtungsgefühl – insbesondere im Falle von Eltern, die für ihr Kind spenden – schwer von einem Zwang unterschieden werden. Der Spender fühlt sich verpflichtet zu spenden, da der Empfänger andernfalls sterben würde. Eigler (1997) betont jedoch, „dass gerade in dieser Konstellation ein natürliches Verhalten zu sehen und die dabei begrenzte Freiwilligkeit unter den besonderen Umständen auch zu akzeptieren ist“ (S. 1399). Weiterhin kann äußerer Druck, der durch die Familie und das medizinische Personal auf den Spender einwirkt, die Freiwilligkeit einschränken. Das US-amerikanische Advisory Committee on Organ Transplantation (www.​organdonor.​gov/​legislation/​advisory.​html) empfiehlt deshalb die Einsetzung eines unabhängigen Donor Advocate (engl. „Spenderanwalt/-beauftragter“), der die Interessen der Spender vertreten und schützen soll. In Deutschland wurden den Landesärztekammern angegliederte Lebendspende-Kommissionen eingerichtet, um den Schutz des Spenders und die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zu gewährleisten.

Des Weiteren beeinflusst im Fall der Leberlebendspende die Dringlichkeit der Situation (Gesundheitszustand des Empfängers) die Entscheidungsfindung. Strong und Lynch (1996) weisen darauf hin, dass im Falle einer dringlichen Spende die Zeit fehle, die Entscheidung angemessen zu reflektieren und infrage zu stellen, was ein Kernelement in Nierenlebendspendeprogrammen sei. Erim et al. (2007) stellten allerdings fest, dass Spender für Empfänger mit einer hoch dringlichen Indikation in ihrer psychischen Lebensqualität zwar präoperativ eingeschränkt sind, diese Einschränkung jedoch bereits drei Monate nach der Operation nicht mehr besteht.

Zur ethischen Rechtfertigung der Lebendspende wird von manchen Autoren der Nutzen für den Empfänger dem Risiko für den Spender gegenüber gestellt und die Durchführung einer Lebendspende dann als gerechtfertigt angesehen, wenn dieser Nutzen das Risiko übersteigt (Malago et al. 2001). Andere Autoren (Pruett et al. 2006) empfehlen eine gemeinsame Kosten-Nutzen-Abwägung für Spender und Empfänger: Eine Lebendspende sei nur dann durchzuführen, wenn der aggregierte Nutzen die Risiken für das Spender-Empfänger-Paar übersteigt. Wieder andere Autoren betonen dagegen, dass das Risiko für den Spender nicht durch den Nutzen für den Empfänger aufgewogen werden könne, sondern nur durch einen Nutzen für den Spender selbst (Spital 2004). Die Berücksichtigung der Situation des Empfängers lenke den Fokus des Arztes vom Spender ab, der Arzt solle jedoch ausschließlich dem Spender verpflichtet sein und ggf. auch gegen dessen Wunsch zu spenden entscheiden, wenn er dies medizinisch oder ethisch für nicht vertretbar halte (Delmonico und Surman 2003; Spital 2004).

Der Nutzen für den Spender ist dabei psychischer Natur und kann sich z. B. in einem höheren Selbstwertgefühl (Clemens et al. 2006) oder einer besseren postoperativen Lebensqualität (Schulz et al. 2009) äußern. Aber auch wenn dies nicht eintritt, kann allein die Tatsache, dem Empfänger durch die Spende geholfen zu haben und ihn weiter bei sich zu haben, einen Nutzen für den Spender darstellen (Spital 2004).

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Psychologische Evaluation und Beratung im Vorfeld einer Organ-Lebendspende

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