Patientenverfügungen muslimischer Patienten in einer wertpluralen Gesellschaft




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_8


8. Patientenverfügungen muslimischer Patienten in einer wertpluralen Gesellschaft



Ilhan Ilkilic 


(1)
Institut für Geschichte der Medizin und Ethik, Medizinische Fakultät, Universität Istanbul, Istanbul, Türkei

 



 

Ilhan Ilkilic



In wertpluralen Gesellschaften begegnen uns in der medizinischen Versorgung zahlreiche Konflikte, bei denen die kulturellen und religiösen Wertvorstellungen des Patienten eine wichtige Rolle spielen. Solche Konflikte beinhalten eine besondere Komplexität, wenn die betroffene Person aus einem anderen Kulturkreis nicht mehr in der Lage ist, selbst über die medizinischen Maßnahmen zu entscheiden. Ob eine Patientenverfügung in einem interkulturellen Arzt-Patient-Verhältnis einen entscheidenden Beitrag zu einer ethisch angemessenen Lösung eines ethischen Konflikts leisten kann, ist eine berechtigte Frage. Hinsichtlich dieser Fragestellung werden im Folgenden unterschiedliche Aspekte der Anwendung einer Patientenverfügung exemplarisch bei muslimischen Patienten diskutiert.


8.1 Das islamische Menschenbild und die Patientenverfügung


Die Bewertung einer Patientenverfügungspraxis nach islamischem Menschenbild hängt u. a. vom muslimischen Verständnis von Willensfreiheit, Gesundheit, Krankheit und Tod ab. Nach islamischem Menschenbild entscheidet der Mensch durch seinen partikularen Willen und ist somit gewissermaßen Urheber seiner Handlungen – wobei sich diese Art des Erschaffens von derjenigen Gottes unterscheidet: Während Gottes Schöpfung sich aus dem Nichts vollzieht, schafft der Mensch nur aus bereits Geschaffenem. Das Zustandekommen einer Handlung erfordert dabei eine Willens- und Handlungsfreiheit. Erst dann kann die Entscheidung und Handlung einer Person als moralisch richtig oder falsch bewertet werden. Es würde auch der Gerechtigkeit – einem zentralen Attribut – Gottes widersprechen, dem Menschen keinen Entscheidungsraum zu geben, ihn aber dennoch zu belohnen oder zu bestrafen. Die für eine moralische Handlung nach islamischem Menschenbild notwendige Willens- und Handlungsfreiheit bietet den Rahmen, innerhalb dessen eine Patientenverfügung grundsätzlich als rechtfertigbar gelten kann.

Ebenso wie das muslimische Menschenbild stellen Gesundheit und Krankheit Schlüsselbegriffe dar, die für eine Praxis der Patientenverfügung in Betracht gezogen werden sollten (Ebrahim 2000; Ilkilic 2008). Die Gesundheit zählt im islamischen Glauben zu den wichtigsten Gottesgaben und gilt als hohes Gut (vgl. Sure 95/4, 32/9, 67/23 und 82/7-8). Das Verständnis von Gesundheit als Gottesgabe und dem Menschen anvertrautes Gut bildet zugleich den Ausgangspunkt für gesundheitliche Selbstverantwortung. Der Mensch ist Inhaber und Nutznießer seines Körpers, Gott hingegen sein Eigentümer. Es obliegt dem Menschen, im Laufe seines Lebens rechtmäßig und verantwortlich damit umzugehen. Diese aus dem Gottesgabeverständnis abgeleitete Verantwortung für die eigene Gesundheit impliziert für den Muslim bestimmte Handlungen wie diätetische und hygienische Maßnahmen einer gesunden Lebensführung sowie medizinische Interventionen im Krankheitsfall. Insofern kann an dieser Stelle die Patientenverfügung die Funktion erfüllen, bestimmte Handlungsoptionen für den Muslim im Falle einer Entscheidungsunfähigkeit zu konkretisieren und zu präzisieren.


Muslimisches Verständnis von Sterben, Tod und Jenseits

Auch das muslimische Verständnis von Sterben, Tod und Jenseits erlangt bei der Bewertung der Patientenverfügungspraxis eine wichtige Bedeutung. Nach islamischem Glauben markiert der Tod die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, welche zwei Bereiche eines Kontinuums darstellen. Der Tod ist somit nicht das absolute Ende des Menschen, sondern stellt ein Tor vom Diesseits zum Jenseits dar, wo gute wie schlechte Taten des Menschen ihren Lohn finden werden. Der Tod ist nicht etwa die Folge einer Sünde, sondern Heimkehr zum Schöpfer (Sure 56/60-1, Sure 3/185). Der Sterbeprozess ist als Übergang in einen neuen Seinszustand zu verstehen. Der Jenseitsglaube gehört zu den zentralen Prinzipien des islamischen Glaubens. Dieses Glaubensprinzip prägt zugleich die individuellen Wertvorstellungen, die wiederum die Wünsche und Präferenzen am Lebensende eines Muslims beeinflussen; so auch seine Entscheidungen über lebensverlängernde Maßnahmen, seine Einstellung zum Hirntod, zur aktiven und passiven Sterbehilfe. Hier kann eine Patientenverfügung zur Präzisierung der individuellen Präferenzen und Entscheidungen beitragen – zumal über die genannten Themen des Lebensendes in der innerislamischen Diskussion Meinungsverschiedenheiten existieren, ausgenommen die aktive Sterbehilfe, die einheitlich und kategorisch abgelehnt wird (Ilkilic 2002; Ilkilic 2006).

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Patientenverfügungen muslimischer Patienten in einer wertpluralen Gesellschaft

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