Patientenverfügungen aus evangelischer Sicht




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_4


4. Patientenverfügungen aus evangelischer Sicht



Christoph Meier 


(1)
Studienleiter a.D. der Evangelischen Akademie Tutzing, Oderdinger Str. 15b, 82362 Weilheim, Deutschland

 



 

Christoph Meier




4.1 Pluralität des evangelischen Christentums


Die Evangelische Kirche in Deutschland ist keine in sich geschlossene Einheit, sondern ein Zusammenschluss von 20 weithin selbständigen Landeskirchen. Von diesen stehen sieben in lutherischer, eine in reformierter Bekenntnistradition; die restlichen bezeichnen sich als uniert (lat. unire „vereinigen“). Die Lutherischen Kirchen berufen sich auf die von Martin Luther (1483–1546), die Reformierten auf die von Ulrich Zwingli (1484–1531) und Johannes Calvin (1509–1564) begründete Tradition. In Unierten Kirchen gelten (mit im Einzelnen unterschiedlichen Gewichtungen) beide Traditionen. Die Differenzen zwischen den verschiedenen reformatorischen Bekenntnistraditionen sind so gering, dass sie heute nicht mehr als kirchentrennend erachtet werden und somit einer engen Zusammenarbeit sowie einem gemeinsamen öffentlichen Auftreten der 20 Landeskirchen unter einem gemeinsamen Dach – der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – nicht im Wege stehen. Die Gesamtzahl der Mitglieder aller Evangelischen Landeskirchen in der Bundesrepublik Deutschland beträgt knapp 25 Mio. Der Vorsitzende des Rates der EKD ist Sprecher der Evangelischen Kirchen in Deutschland, steht hierarchisch aber nicht über, sondern neben den anderen Landesbischöfinnen und -bischöfen und hat ebenso wie diese keine herausgehobene Lehrautorität.

Auch sonst kennen die evangelischen Kirchen, im Unterschied zur katholischen, kein Lehramt. D. h. es gibt in ihnen keine Instanz, die Lehrinhalte und/oder ethische Normen für alle Gläubigen verbindlich festlegen könnte. Als verbindlich gelten allein Schrift und Bekenntnis, d. h. konkret die Bibel und je nach konfessioneller Prägung der einzelnen Landeskirchen unterschiedliche Bekenntnisschriften: z. B. die Confessio Augustana (Augsburgisches Bekenntnis) für die Lutherischen Kirchen oder der Heidelberger Katechismus für die Reformierten Kirchen. Als in sich vielstimmige, zum Teil sogar widersprüchliche Schriften bedürfen diese Bekenntnisgrundlagen der Auslegung, und diese ist mindestens so vielstimmig wie die Schriften selbst. Eine normierende Instanz, die in dieser oder ggf. gegen diese Unterschiedlichkeit allgemein Verbindliches festlegen könnte, gibt es wiederum nicht. Über die Gültigkeit einer Aussage, Forderung, Norm o. ä. entscheidet allein die Überzeugungskraft der Argumente. Damit aber gilt für evangelische Lehre und evangelische Ethik letztlich kein anderer Maßstab als für philosophische, politische oder sonstige gesellschaftliche Diskurse.


4.2 Evangelische Positionen zu Patientenverfügungen


Vor diesem Hintergrund ist der evangelische Beitrag zur Diskussion um die Patientenverfügung zu sehen. Wie zu anderen ethischen und politischen Streitfragen ist er nicht einstimmig, sondern vielstimmig, wobei sich viele der Differenzpunkte, um die in der allgemeinen Diskussion gestritten wird, in der innerevangelischen widerspiegeln. Bei genauerer Betrachtung stellt sich der Zusammenhang sogar umgekehrt dar: Die allgemeine öffentliche Diskussion hat aus der in den evangelischen Kirchen seit Langem geführten wesentliche Anstöße erhalten, wenn nicht sogar von dort ihren Ausgang genommen. So hat die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern bereits 1992 eine Vorlage für eine Christliche Patientenverfügung veröffentlicht, die damals auf große Nachfrage gestoßen ist und als erster Versuch einer derartigen Anregung aus einem explizit kirchlichen Umfeld für das allgemeine Anliegen Patientenverfügung bahnbrechend gewirkt hat.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Patientenverfügungen aus evangelischer Sicht

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