Patientenverfügung in der Intensiv- und Notfallmedizin



Gerade in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) (s. Kap. 32) kommen ähnliche Dokumente zum Einsatz. Sie beziehen sich auf eine entsprechende Situation und geben klare Handlungsempfehlungen an die betreuenden (Pflege-)Personen und den Rettungsdienst.

Bei der Versorgung von Notfallpatienten gelten die allgemeinen medizinischen und ethischen Prinzipien: „Indikationen beachten, Gutes tun, nicht schaden, Gerechtigkeit und Patientenautonomie“ (Beauchamp und Childress 1994).

Im Zweifel sind rettungsdienstliche Maßnahmen einzuleiten und fortzuführen.

Bei einem primären Erfolg der durchgeführten Maßnahmen erfolgen die weiteren Entscheidungen über das therapeutische Vorgehen im Krankenhaus.



21.2 Kasuistik Notfallmedizin



Kasuistik

Der Notarzt wurde an einem Samstagmorgen mit der Notfallmeldung „akute Luftnot“ in ein Pflegeheim gerufen.

Bei Eintreffen im Pflegeheim fand der Notarzt einen 83-Jährigen, nicht ansprechbaren Patienten in einem Pflegebett liegend vor. Die betreuende Pflegekraft berichtete, dass der Patient erst vor einigen Tagen aus der stationären Behandlung entlassen worden sei. Er habe nun seit einigen Stunden „schwer“ geatmet und sei kaum mehr erweckbar. Als Grunderkrankung seien mehrere Schlaganfälle in der Vorgeschichte bekannt. Es wurde berichtet, dass der Patient seit dem letzten Krankenhausaufenthalt bettlägerig sei. Zuvor sei er jedoch noch im Rollstuhl mobil gewesen und habe an den sozialen Aktivitäten des Pflegeheims teilgenommen. Dem Notarzt wurde weiterhin mitgeteilt, dass die Enkelin des Patienten zur Betreuerin bestellt sei. Ein entsprechender Eintrag fand sich auch in der Pflegekurve.

In der notärztlichen Untersuchung zeigte sich ein deutlich bewusstseinsgestörter Patient, mit einem akuten Infekt und den entsprechenden Kreislaufparametern. Die Atmung war deutlich angestrengt, die Sauerstoffversorgung eingeschränkt. Über der Lunge war deutlich ein Sekretrasseln zu hören.

Aus den vorliegenden Pflegeunterlagen ging hervor, dass der Patient aufgrund einer Lungenentzündung über drei Monate in stationärer Behandlung gewesen war. Es lag eine allgemeine Patientenverfügung vor, die bereits vor Jahren erstellt und seither nicht aktualisiert wurde. Die Formulierungen in der Patientenverfügung waren sehr allgemein gehalten und auf die aktuelle Situation nicht anwendbar.

Zunächst erfolgte die notärztliche Versorgung durch die Anlage einer Infusion und die Gabe von Sauerstoff. Zur symptomatischen Behandlung der sehr angestrengten Atmung entschied sich der Notarzt trotz der schon bestehenden Beeinträchtigung des Bewusstseins zur Gabe eines Opiats.

Zur besseren Einschätzung des Krankheitsverlaufes nahm der Notarzt Kontakt mit dem Kollegen des letztbehandelnden Krankenhauses auf. Es konnte ermittelt werden, dass der Patient zunächst aufgrund eines pulmonalen (lat. „die Lunge betreffend“) Infektes stationär behandelt wurde. Im Verlauf des stationären Aufenthaltes kam es zu einem erneuten Schlaganfall mit der Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung. Aufgrund von Schluckstörungen kam es erneut zu einem pulmonalen Infekt mit der Notwendigkeit einer längeren Beatmungstherapie (s. Kap. 24). Letztlich erfolgte, bei den weiter bestehenden ausgeprägten Schluckstörungen, die Anlage einer Ernährungssonde (PEG) (s. Kap. 23).

Bei der Entlassung aus dem Krankenhaus bestand weiterhin eine halbseitige Lähmung sowie ausgeprägte Schluckstörungen. Eine Kontaktaufnahme mit dem Patienten war nur sehr eingeschränkt möglich.

Unter den eingeleiteten notärztlichen Maßnahmen besserte sich der Zustand des Patienten nicht. Die Sauerstoffversorgung verschlechterte sich trotz der Gabe von Sauerstoff über eine Gesichtsmaske, sodass die Indikation zur künstlichen Beatmung bestand.

Mittlerweile gelang es, die Enkelin des Patienten zu erreichen, die sich umgehend auf den Weg machte und nach einiger Zeit im Pflegeheim eintraf.

Die Enkelin wurde über die akute Krankheitssituation des Patienten informiert, ebenso über die medizinische Indikation, ihren Großvater erneut stationär einweisen zu müssen. Aufgrund der zunehmenden Verschlechterung des Zustandes bestehe die Notwendigkeit, eine Beatmungstherapie einzuleiten. Die Enkelin berichtete, im Verlauf des vergangenen intensivmedizinischen Aufenthaltes als Betreuerin bestellt worden zu sein. Ihr Großvater habe vor Jahren, nach dem ersten Schlaganfall, eine Patientenverfügung erstellt, damit er „nicht als Pflegefall enden würde“. Er habe sich danach aber nicht mehr um dieses Thema gekümmert. Die Vorstellung er könne nicht mehr aktiv am Leben teilhaben und pflegebedürftig zu sein, habe ihn sehr belastet.

Schon während des letzten Intensivaufenthaltes habe die Enkelin das Gefühl gehabt, ihr Großvater würde sich innerlich gegen die Therapie stellen und „nicht mehr wollen“.

Gemeinsam mit der Enkelin und dem Personal des Pflegeheimes wurde entschieden, dass eine Krankenhauseinweisung nicht mehr dem mutmaßlichen Willen des Patienten entsprechen würde. Seitens des Notarztes wurde Kontakt mit dem Kollegen des ärztlichen Bereitschaftsdienstes mit der Bitte aufgenommen, den Patienten in den folgenden Stunden erneut zu besuchen, um die, durch den Notarzt eingeleitete, symptomlindernde Therapie mittels Opiaten (s. Kap. 25) fortzuführen, und im Falle einer zunehmenden Verschlechterung diesen Besuch vorzuziehen.

Der Patient verblieb in seiner gewohnten Umgebung und verstarb nach wenigen Stunden im Beisein seiner Angehörigen.

Die Kasuistik zeigt das Dilemma des Rettungsdienstes auf, wenn eine Patientenverfügung nicht vorhanden oder auf den konkreten Fall nicht anwendbar ist. Die abwartende Haltung des Notarztes und der Umstand, dass der mutmaßliche Patientenwille durch die Enkelin eruiert werden konnte, hat den Patienten vor einer zwar medizinisch indizierten, aber nicht erwünschten Maßnahme bewahrt. Es konnte auf einen Patiententransport und die Unterbringung in einer ungewohnten Umgebung verzichtet werden.


21.3 Intensivmedizin


Die Aufgabe der Intensivmedizin ist die Diagnostik und Behandlung drohender oder manifester vitaler Funktionen. Ziel der Intensivmedizin ist die kausale Behandlung des Grundleidens mit dem Ziel der Heilung und der Rückführung in ein selbstbestimmtes Leben außerhalb der Intensivmedizin. Ist dieses Ziel nicht zu erreichen, werden Symptomlinderung und Sterbebegleitung Aufgabe der Intensivmedizin (nach Benzer et al. 2009; Bone 2012).

Durch die moderne Intensivmedizin ist es möglich geworden, Organe und Organsysteme über einen langen Zeitraum zu unterstützen und zu ersetzen. Somit eröffnen sich für einen großen Bereich der Medizin Handlungsspielräume, um Maßnahmen und Operationen bis ins hohe Alter durchzuführen.

Die Ziele der Intensivmedizin werden mit einem hohen Einsatz von Personal und Medizintechnik verfolgt. Aufgrund der hohen Invasivität der durchgeführten Maßnahmen kann es zu einer zusätzlichen Schädigung des Patienten kommen, die ihrerseits die intensivmedizinische Behandlung verlängern oder verkomplizieren.

Für die Patienten wirkt die eingesetzte Technik häufig bedrohlich und verunsichernd. Die zur Therapiesteuerung und Überwachung eingeschalteten Gerätealarme verursachen eine permanente Geräuschkulisse und verunsichern Patienten und Angehörige noch mehr. Veränderungen an den zur Überwachung der Vitalfunktionen eingesetzten Patientenmonitoren werden von den Angehörigen beobachtet und häufig fehlinterpretiert.

Auf Intensivstationen erfolgt eine rund um die Uhr Betreuung in hellem Licht und einer entsprechenden Geräuschkulisse. Hieraus erfolgt ein gestörter Tag-/Nacht-Rhythmus und stellt eine deutliche psychische Belastung der Patienten dar. Dies kann zu Unruhezuständen bis hin zu einer Bewusstseinstörung führen und die Patienten zusätzlich gefährden.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Patientenverfügung in der Intensiv- und Notfallmedizin

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