Normative Basis von Patientenverfügungen: Das Grundrecht auf Selbstbestimmung in ethischer und in interkultureller Hinsicht




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_2


2. Normative Basis von Patientenverfügungen: Das Grundrecht auf Selbstbestimmung in ethischer und in interkultureller Hinsicht



Hartmut Kreß 


(1)
Evangelisch-Theologische Fakultät, Abt. Sozialethik, Universität Bonn, Am Hof 1, 53113 Bonn, Deutschland

 



 

Hartmut Kreß




2.1 Die Aufgabe der Bewusstseinsbildung


In jeder Epoche müssen sich die Menschen mit Sterben und Tod neu auseinandersetzen. Im Jahr 1910 meinte Georg Simmel – einer der Vordenker moderner Lebens- und Existenzphilosophie –, die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit besitze für jeden Menschen eine „formgebende Bedeutung“. Zur Erläuterung schrieb er: „In jedem einzelnen Moment des Lebens sind wir solche, die sterben werden. … So wenig wir in dem Augenblick unserer Geburt schon da sind, fortwährend vielmehr irgendetwas von uns geboren wird, so wenig sterben wir erst in unserem letzten Augenblicke“ (Simmel 1957, S. 31). Zugleich machte Simmel deutlich, dass zumindest in der Moderne Menschen dazu neigen, das Faktum ihres zukünftigen Sterbens zu verdrängen. Er war einer der Autoren, die vor hundert Jahren die Worte „Todesflucht“ und „Todesverdrängung“ geprägt haben. Der Sache nach trifft es ja tatsächlich zu, dass wir uns den belastenden Themen von Krankheit, Sterben und Tod nicht gern stellen. Eigentlich ist dies aber unerlässlich; denn die Endlichkeit und das Sterben sind Teil unserer Existenz. Hierauf wollte Simmel damals aufmerksam machen.

In der Gegenwart ist zusätzlich eine weitere Entwicklung aufzuarbeiten, die vor hundert Jahren konkret noch gar nicht zu erahnen gewesen war. Im 20. Jahrhundert haben sich hinsichtlich des Sterbens tiefgreifende Einschnitte ereignet. In der Konsequenz und als Reaktion erlangt für den Umgang mit dem Sterben das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung heute einen sehr hohen Stellenwert.


2.2 Kultureller und medizinischer Wandel des Sterbens im 20. Jahrhundert


Der Umbruch, der im 20. Jahrhundert stattfand, besteht zunächst darin, dass das Sterben hospitalisiert, d. h. zunehmend in die Klinik, in das Krankenhaus verlagert worden ist. Gleichzeitig vollzog sich eine Privatisierung. Der Sterbeprozess wurde zu einem privaten und einsamen Vorgang, an dem nicht mehr wie früher die Großfamilie und das gesamte Lebensumfeld, das Dorf oder die Wohnstraße Anteil nehmen. Soziologisch betrachtet sind Sterben und Tod in der modernen Gesellschaft dysfunktional geworden. Sie wurden besonders im Verlauf des späteren 20. Jahrhunderts soziokulturell „ausgebürgert“, weil der Alltag von anderen Leitbildern und Funktionalitäten dominiert wurde, z. B. Zweckrationalität, Konsum, Wettbewerb oder Erlebnis- und Glücksstreben. Darüber hinaus hat sich der Sterbeprozess selbst, der Ablauf des Sterbens, stark verändert. Noch vor wenigen Jahrzehnten erfolgte zumeist ein rascher Tod, z. B. aufgrund von Infektionen oder Lungenödem. Inzwischen vollzieht sich das Sterben hingegen oftmals langsam. Dies betrifft vor allem ältere Menschen mit Krebserkrankungen, nach einem Schlaganfall oder mit Herz- und Lungenkrankheiten. Langwierige Krankheits- und Sterbeprozesse gehen einher mit Demenz, Mehrfacherkrankungen oder chronischen Verläufen. Vor diesem Hintergrund hat sich inzwischen die Einstellung zum Sterben verschoben.

In der Vergangenheit hatte man häufig den raschen, plötzlichen, unerwarteten Tod gefürchtet. Menschen hatten Angst, unerwartet zu versterben, ohne sich von Angehörigen verabschieden oder – was die religiöse Seite betrifft – noch einmal beichten und vom Priester Sündenvergebung und Absolution erhalten zu können. Hierdurch geriet das ewige Seelenheil in Gefahr. In der Gegenwart verursacht umgekehrt die Aussicht auf lang anhaltende Krankheit und ein lang andauerndes Sterben Angst und Besorgnis.

Seit den 1960er Jahren ist es insbesondere die Intensivmedizin, die das Sterben aufhalten, verzögern und in die Länge ziehen kann. Der intensivmedizinische Fortschritt kommt einerseits der Lebensrettung und der Erhaltung von Lebensqualität zugute, so dass er human völlig unverzichtbar ist. Andererseits droht durch Medikamente oder durch Intensiv- und Apparatemedizin, z. B. durch künstliche Ernährung, Flüssigkeitszufuhr oder Beatmung, das menschliche Sterben überfremdet zu werden. Die „Medikalisierung“ des Sterbens (Ariès 1980, S. 747) bzw. die technisch gestützte künstliche Lebensverlängerung können in Inhumanität umschlagen, sofern sie zur belastenden, rein quantitativen Ausdehnung der Lebenszeit und zur bloßen Leidensverlängerung werden und wenn durch sie die Selbstachtung von Menschen beeinträchtigt wird.

Diese Entwicklungen markieren einen Einschnitt, der ethisch mit Hilfe der Idee der Menschenwürde und des Grundrechts auf Selbstbestimmung aufzuarbeiten ist.


2.3 Würde des Sterbens als Teil der Menschenwürde


Die neuzeitliche Konzeption der Menschenwürde besagt, dass jeder in seiner Persönlichkeit und in seiner leiblich-geistigen Ganzheit zu achten und zu schützen ist. Jede oder jeder Einzelne besitzt einen eigenen Wert und ist Selbstzweck. Daher darf niemand zum bloßen Objekt des Zugriffs Dritter herabgewürdigt werden. Dieses Verständnis von Menschenwürde entstand in der Aufklärungsepoche und geht vor allem auf Immanuel Kant zurück. In der Gegenwart sind nun die Medikalisierung und die medizinisch-technischen Überfremdungen des Sterbeprozesses zur Realität geworden. Angesichts dieses Sachverhaltes, den frühere Epochen noch nicht kannten, erhält die Idee der Menschenwürde eine ausgeweitete Bedeutung.

Heutzutage hat die Würde des Sterbens ausdrücklich als Bestandteil der Menschenwürde zu gelten. Sie ist zu einem Schutzrecht geworden, das Sterbenden zusteht, sowie zu einer Schutzpflicht: Ärzte und andere Beteiligte sind aufgefordert, ihr Handeln an der Würde der Sterbenden zu bemessen.

Normative Teilaspekte der Menschenwürde, die im Grundgesetz in Art. 1 verankert ist, ergeben sich aus dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen (Art. 3 GG), dem Lebensschutz (Art. 2 Abs. 2 GG) oder dem Grundrecht auf Schutz der menschlichen Gesundheit. Für den Umgang mit Sterbenden und für die Wahrung ihrer Würde bedeutet dies, dass jeder Schwerstkranke und Sterbende ein Lebensrecht und Anspruch auf den Schutz seiner physischen Existenz hat. Auch für Schwerstkranke und Sterbende gilt das Recht auf Gesundheitsschutz, nämlich auf das ihnen in ihrer Situation (noch) erreichbare gesundheitliche Wohl und auf eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung. Verfassungsrechtlich, in europäischen Verträgen und internationalen Menschenrechtsdokumenten wird der Gesundheitsschutz als fundamentales Grundrecht anerkannt. Aus ihm folgt, dass Schwerstkranken und Sterbenden eine wirksame Schmerzbehandlung zusteht, die dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens entspricht. Weil effektive Schmerztherapie und palliative Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland zurzeit noch nicht flächendeckend gewährleistet sind, ist zu unterstreichen, dass eine medizinisch kompetente Schmerzlinderung keine bloße Wohltat und keine gleichsam zusätzliche Fürsorge darstellt. Vielmehr haben Patienten sowohl ethisch als auch rechtlich auf sie einen Anspruch (vgl. Kutzer 2008; Kreß 2009, S. 286).

Dieser Schutzanspruch auf Schmerztherapie (s. Kap. 25) steht allen potentiell Betroffenen gleicherweise zu. Zusätzlich zu den grundrechtlichen und ethischen Argumenten ist hierzu an das Wort „palliativ“ zu erinnern, das sich vom lateinischen „pallium“ (Mantel) bzw. „palliare“ (mit einem Mantel bedecken) herleitet. Der Mantel ist nicht nur ein Kleidungsstück, sondern gleichfalls ein Symbol. In der christlichen Kunst des Mittelalters stand die Darstellung der Maria mit einem Mantel für den Schutz der Gläubigen. Die Mantelsymbolik war jedoch schon in der römischen Antike geläufig, etwa bei der Aufnahme von zu adoptierenden Kindern unter den Mantel des Vaters (vgl. Belting-Ihm 1976). Sie ist traditionell ebenfalls im Islam bekannt, z. B. durch das sogenannte Mantelgedicht aus dem 13. Jahrhundert, und gilt kunstgeschichtlich als Zeichen sowohl für Schutz als auch für Würde (Kretschmer 2008, S. 277). Der springende Punkt besteht darin, dass das Sinnbild des Mantels die Kulturen und Ethnien übergreift. Übertragen auf die Gegenwart ergibt sich hieraus der Impuls, palliative Begleitung und Schmerzversorgung, d. h. das Abschirmen von Schmerzen und Leiden, einem jeden Patienten ohne Ansehen der Person zugutekommen zu lassen.

Für den Umgang mit dem Sterben, namentlich auch für das – erst seit den 1980er Jahren langsam bekannt werdende – Instrument der Patientenverfügung, ist sodann das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung tragend. Nachfolgend wird dieser Aspekt im Vordergrund stehen.

Patientenverfügungen bieten Interessierten die Möglichkeit, aus eigenem Ermessen heraus für eine künftige hypothetische Situation der Krankheit und des Sterbens vorsorgliche Festlegungen zu treffen, die einen Behandlungsabbruch, die Schmerzlinderung oder die sogenannte passive Sterbehilfe betreffen. Umgekehrt können auch positive Behandlungswünsche geäußert werden.


2.4 Freiheit und Selbstbestimmung – verfassungsrechtlich, ethisch und religiös-kulturgeschichtlich


Im Grundgesetz ist das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung in Art. 2 Abs. 1 verankert: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“. Der normativen Logik dieses Verfassungsartikels zufolge steht es jedem einzelnen Bürger zu, frei über sich selbst zu entscheiden, ohne dies anderen gegenüber begründen oder rechtfertigen zu müssen. Einer Begründung bedarf es vielmehr, falls umgekehrt der Staat oder falls Dritte in Betracht ziehen, die Selbstbestimmung eines Menschen ausnahmsweise einzuengen oder einzuschränken (vgl. Hufen 2014, S. 188). Bei einem Vergleich der weltweit geltenden Staatsverfassungen zeigt sich, dass kein anderer Staat das Freiheitsgrundrecht so prägnant und unmissverständlich garantiert wie das Bonner Grundgesetz von 1949. Historisch beruht dies darauf, dass der Bonner Parlamentarische Rat die geschichtliche Erfahrung des freiheitswidrigen NS-Unrechtsstaates aufgearbeitet hatte.

Philosophisch und ethisch kommt der Selbstbestimmung gleichfalls besonders hoher Rang zu. Sie lässt sich unmittelbar aus der Menschenwürde ableiten. Immanuel Kant hatte die Menschenwürde und die Selbstbestimmung miteinander verschränkt und sie in einem Begründungszusammenhang zirkulär miteinander verbunden. Ihm zufolge zeichnen sich Menschen vor anderen Lebewesen dadurch aus, dass sie zum Gebrauch von Vernunft und Freiheit prinzipiell in der Lage sind. Auf der Fähigkeit, frei entscheiden zu können, beruht die Würde des Menschseins, an der jeder Einzelne teilhat. Daraus ist zugleich die Schlussfolgerung zu ziehen, dass derjenige, der seine Selbstbestimmung konkret in Anspruch nehmen möchte, hierzu auch befugt ist. Zwar sind Grenzen des Selbstbestimmungsrechts zu sehen. Sie ergeben sich vor allem dann, wenn Rechte anderer Menschen berührt sind oder wenn anderen gar geschadet würde. Hiervon abgesehen hat aber jeder das gute Recht, selbst und eigenständig zu entscheiden – zumal dann, wenn seine Willensbekundungen ihn selbst, seinen Körper und seine eigene Existenz betreffen.

Der auf Kant zurückgehende Gedankengang, der das Recht auf Selbstbestimmung mit der persönlichen Menschenwürde verknüpft, bildet deshalb die Basis für den eigenverantworteten Umgang von Menschen mit ihrem Lebensende, z. B. für die Abfassung einer Patientenverfügung. Weil in der Gegenwart die Würde des Sterbens als Teil der Menschenwürde anzusehen ist, besitzt jeder das Recht, aus seiner persönlichen Perspektive heraus zu sagen, was er für sich selbst unter einem menschenwürdigen Sterben versteht.

Eine solche Überlegung lässt sich gleichfalls vor theologischem Hintergrund entfalten. Zwar sind im Christentum Traditionslinien anzutreffen, die dem Leitbild der Freiheit und Autonomie zuwiderlaufen, indem sie z. B. die Macht des Bösen, das unentrinnbare Sündersein des Menschen oder die allmächtige Vorherbestimmung durch Gott hervorhoben. Kritiker des Christentums – vom Philosophen Friedrich Nietzsche bis zu dem jüdischen Rabbiner Leo Baeck – haben herausgestellt, dass das Christentum häufig eine freiheitswidrige Gehorsams- und Autoritätsmoral bejaht hat. Dieser Einwand ist berechtigt und muss auf christlicher Seite selbstkritisch aufgearbeitet werden. Gleichzeitig ist aber zu sagen, dass das Christentum einen breiten Überlieferungsstrang enthält, der die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung hochschätzt.

Vordenker der katholischen Theologie hatten schon im Mittelalter Vernunft und Freiheit ins Licht gerückt. Sie deuteten Freiheit als Ausdruck der menschlichen Gottebenbildlichkeit. Thomas von Aquin zufolge bilden die menschliche Vernunft und Freiheit die Vernunft Gottes ab. Nachdrücklicher lässt sich die Wertschätzung sittlicher Freiheit kaum zur Geltung bringen. Anknüpfend an einen alten jüdisch-weisheitlichen Text (Sirach 15,14) meinte Thomas von Aquin, Gott habe den Menschen seinem eigenen Ratschluss überlassen („et reliquit illum in manu consilii sui“). Daher findet sich in der älteren katholischen Morallehre die prägnante Formel, dass im Zweifelsfall der Willensfreiheit Vorrang gebührt („in dubio libertas“).

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Normative Basis von Patientenverfügungen: Das Grundrecht auf Selbstbestimmung in ethischer und in interkultureller Hinsicht

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