Künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe: Verfahren, Indikationen, Ziele und Risiken



Abb. 23.1
Verfahren zur Gabe von Flüssigkeit und Ernährung





23.2 Verfahren der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsgabe


Eine künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe kann entweder über einen intravenösen Zugang oder über eine Ernährungssonde erfolgen (zur Übersicht s. Abb. 23.1 und Tab. 23.1). Ein intravenöser Zugang wird in der Regel dann bevorzugt, wenn eine künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe voraussichtlich nur für einen kurzen Zeitraum (d. h. mehrere Tage bis wenige Wochen) nötig sein wird. Hier stehen prinzipiell zwei Möglichkeiten zur Verfügung:



  • ein peripher-venöser Venenkatheter (PVK) (Abb. 23.1a, b): Dieser besteht aus einem kleinen, sehr dünnen und kurzen Kunststoffschlauch mit einem kleinen Durchmesser, der – ähnlich einer Blutentnahme – mit einer Stahlkanüle (Stahl-Mandrin) in eine Vene am Arm eingebracht und mit einem Pflaster befestigt wird. Über diesen kleinen Schlauch können Infusionen in das venöse Blutsystem gegeben werden, welche den Flüssigkeitshaushalt stabilisieren, Blutsalze (Elektrolyte) ausgleichen und auch geringe Mengen an Nährstoffen (z. B. Glukose und Aminosäuren) zuführen können. Da solch ein Zugang nicht sehr fest in der Vene befestigt ist und sich schnell entzünden kann, muss er in der Regel bereits nach mehreren Tagen ersetzt werden.


  • ein zentral-venöser Venenkatheter (ZVK) (Abb. 23.1c, d): Dieses ist ein längerer dünner Kunststoffschlauch mit einem etwas größeren Lumen (Durchmesser), der über eine Stahlkanüle in eine große, rumpfnahe Vene (z. B. am Hals oder am oberen Brustkorb) eingebracht und dessen Ende bis zur oberen oder unteren Hohlvene vor dem rechten Vorhof des Herzens vorgeschoben wird. Die Befestigung erfolgt an der Einstichstelle mit zumeist zwei kleinen Knoten an der Haut. Im Unterschied zum PVK erlaubt ein ZVK auch die Zufuhr hochkonzentrierter Elektrolyt- und Nährstofflösungen, z. B. hochkalorischer Fettemulsionen. Zudem ermöglicht die bessere Befestigung eine längere Liegezeit, welche in der Regel mehrere Wochen betragen kann.



Tab 23.1
Eigenschaften der Verfahren zur Gabe von Flüssigkeit und Ernährung










































   
Liegedauer

Ernährungszufuhr

Komplikationsrate

Entfernung

Intravenös (parenteral)

P

V

K

Wenige Tage

Nur niedrigkalorische Infusionslösungen

Niedrig (Dislokation mit Gefahr eines Flüssigkeitsaustritts ins Gewebe, Blutergüsse; lokale Entzündung)

Durch einfaches Herausziehen; jederzeit

Z

V

K

Tage bis Wochen

Auch hochkalorische Emulsionen

Mittelgradig bis hoch (Blutergüsse; Fehlpunktion benachbarter Gefäße oder Organe, insbes. Pneumothorax; Kathetersepsis; Luftembolie; Herzrhythmusstörungen)

Durch Herausziehen durch Pflegekraft oder Arzt

In den Magen (enteral)

M

S

Tage bis Wochen

Jjede hinreichend flüssige Kost, i. d. R jedoch industrielle Sondenkost

Niedrig (Dislokation mit Aspirationsgefahr; Druckstellen)

Durch einfaches Herausziehen; jederzeit

P

E

G

Wochen bis Jahrzehnte

Niedrig bis mittelgradig (Verletzung von Bauchorganen; Bauchfellentzündung; Einwachsen der Halteplatte in Magenwand; Verstopfung des Schlauches; lokale Entzündung; Durchfall)

1) äußeres Sondenende abschneiden; Abgang des Innenteils über den Darm; nur nach ärztl. Beratung

2) durch Fasszange im Rahmen einer erneuten Magenspiegelung; nur durch Arzt

Im Gegensatz zu den intravenösen Zugängen geschieht die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr bei Ernährungssonden nicht am Magen vorbei (parenteral, von griech. para „neben“, enteron „Darm“; „am Darm vorbei“) in das Blutsystem, sondern in den Magen selbst (enteral, griech. enteron „Darm“). Eine enterale Ernährung ist physiologischer, risikoärmer und kostengünstiger. Unter anderem hat sie auch den Vorteil, dass der Magen-Darm-Trakt auch dann aktiv bleibt, wenn Patienten nicht mehr selber schlucken können. Durch eine Ernährungssonde kann normale Nahrung verabreicht werden, sofern sie hierfür flüssig genug ist. Im heutigen medizinischen Umfeld wird jedoch zumeist ausschließlich industriell gefertigte Flüssignahrung (Sondennahrung) verwendet. Es ist nahezu jede diätetische Zusammensetzung bei entsprechenden Herstellern zu finden. Je nach voraussichtlicher Dauer der Sondenernährung stehen im Wesentlichen zwei Möglichkeiten an Ernährungssonden zur Verfügung:





  • eine nasogastrale Sonde (im klinischen Jargon kurz Magensonde (MS) genannt) (Abb. 23.1e, f): dieses ist ein elastischer Kunststoffschlauch, der durch die Nase entlang des natürlichen oberen Verdauungsweges, also durch Rachen und Speiseröhre, zum Magen vorgeschoben wird. Er wird mit einem kleinen Pflaster an der Naseneintrittsstelle befestigt. Somit ist eine Magensonde zwar sehr einfach und schnell zu legen, verrutscht (disloziert, lat. dislocare, von dis „auseinander“ und locus „Ort“) jedoch auch schnell. Sie ist daher vor allem für eine kurzzeitige künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe (d. h. wenige Tage bis wenige Wochen) bei reversiblen Schluckstörungen geeignet.


  • eine PEG-Sonde (im klinischen Jargon oft nur kurz PEG genannt) (Abb. 23.1g, h): dieses ist ein elastischer Kunststoffschlauch, der durch einen kleinen endoskopischen Schnitt durch die Bauchdecke (eine sog. perkutane endoskopische Gastrostomie, PEG; griech. gaster „Magen, Bauch“ und griech. stoma „Mund, Öffnung“) in den Magen eingeführt wird. Am häufigsten geschieht dieses mit der sog. Fadendurchzugsmethode. Zunächst wird eine Magenspiegelung (Gastroskopie) durchgeführt und der Magen durch Einblasen von Luft entfaltet. Mittels einer kleinen Lichtquelle an dem in den Magen eingeführten Gastroskop wird eine günstige Position für die Sonde gesucht. Unter örtlicher Betäubung wird ein wenige Millimeter langer Schnitt in die Bauchhaut vorgenommen, durch den ein Plastikröhrchen und ein Faden geschoben werden. Der Faden wird im Inneren des Magens durch eine Zange am Endoskop gegriffen, welche durch den Magen, die Speiseröhre und schließlich den Mund herausgezogen wird. So ragt nun ein Fadenende aus dem Mund des Patienten heraus. Hieran kann die Sonde geknotet und durch den Mund, die Speiseröhre, den Magen und die geschaffene kleine Magenöffnung nach außen gezogen werden. Am inneren Ende der Sonde ist eine Plastikplatte befestigt, die ein Durchrutschen der Sonde nach außen verhindert. Von außen wird die Sonde durch eine Gegenplatte fixiert.

Gegenüber einer Magensonde bietet eine PEG-Sonde mehrere Vorteile: Sie kann über mehrere Monate bis Jahre liegen, verringert oftmals eher (jedoch nicht immer) das Verschlucken von kleinen Nahrungs- und Flüssigkeitsmengen (d. h. die Aspirationsgefahr) und der Patient kann parallel zur verabreichten Sondennahrung ungestört schlucken.


23.2.1 Indikationen


Eine künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe kann sich für Patienten eignen, die (1) gar nicht, (2) nicht problemlos oder (3) nicht ausreichend Nahrung und Flüssigkeit mit dem Mund aufnehmen und schlucken können.


Beispiele für erforderliche künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe





  • Bewusstseinsstörungen (Vigilanzstörungen), z. B. bei einer Funktionsstörung oder Schädigung des Gehirns oder nach einer schweren Operation (PVK, ZVK, MS, PEG);


  • bestimmten Formen einer schweren Mangelernährung, z. B. bei Krebserkrankungen oder HIV/Aids-assoziierten Erkrankungen, die anders nicht behoben werden können (PEG, (ZVK), (MS));


  • bestimmten Formen eines Flüssigkeitsmangels oder eines Ungleichgewichts im Blutsalz-Haushalt (Elektrolyt-Störungen) (PVK, ZVK);


  • mechanisch bedingten Schluckstörungen (Erkrankungen des Mundes, des Rachens, der Speiseröhre und des Mageneinganges; z. B. Tumore im Hals-Nasen-Ohren-Bereich, Vernarbungen nach Verätzungen; Verletzungen oder Operationen im Gesichts- und Kopfbereich etc.) (MS, PEG);


  • neurogenen Schluckstörungen (neurogene Dysphagie) mit Gefahr der Aspiration (z. B. bei Schlaganfall, fortgeschrittener Demenz oder Amyotropher Lateralsklerose) (PEG, MS, ZVK).

Die Entscheidung darüber, welches der genannten vier Verfahren angewendet wird, hängt neben der Indikation (s. Abkürzungen hinter der jeweiligen Indikation in Klammern) insbesondere von der erwarteten Dauer ab, für die eine künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe voraussichtlich benötigt wird (s. Spalte „Liegedauer“ in Tab. 23.1). Für den Fall einer irreversiblen schweren Schluckstörung kommt von den dargestellten Verfahren in der Regel nur eine PEG-Sonde in Frage.

Das Vorliegen einer oder mehrerer der genannten Indikationen alleine reicht jedoch für die Legitimation einer künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsgabe nicht aus.

Vielmehr muss erwiesen sein,



1.

dass das jeweilige Verfahren in der jeweiligen Situation auch tatsächlich in der Lage ist, eines oder mehrere der angestrebten Behandlungsziele zu erreichen,

 

2.

dass die hierdurch erwarteten Nutzeffekte die Schadensrisiken übersteigen und

 

3.

dass der jeweilige Patient eine künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe nachweislich wünscht (Marckmann 2007; Synofzik 2007; Synofzik und Marckmann 2007).

 

Bei der Entscheidung über eine künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe reicht der (oftmals von Ärzten vorgebrachte) schlichte Verweis darauf, dass eine Ernährungssonde oder ein intravenöser Zugang in einer bestimmten Situation indiziert sei, nicht aus. Vielmehr beginnt die weitergehende Überprüfung der Legitimation der Maßnahme hier überhaupt erst.


23.2.2 Ziele


Die Behandlungsziele einer künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsgabe bestehen zumeist in einem oder mehreren der folgenden Effekte:





  • Mangelernährung und ihre Folgen verhindern;


  • den Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt stabilisieren;


  • Lungenentzündungen durch Verschlucken von Nahrungsbestandteilen (sog. Aspirationspneumonien) verhindern;


  • Lebensqualität erhalten oder wiederherstellen;


  • Überlebenszeit verlängern.

Eine künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe wird nicht allein dadurch legitimiert, dass man grundsätzlich hofft oder intuitiv erwartet, eines oder mehrere dieser Ziele zu erreichen. Vielmehr sollte zunächst überprüft werden, ob es auch auf wissenschaftlicher Ebene erwiesen ist, dass die künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe tatsächlich bei der jeweiligen Krankheit und im jeweiligen Zustand dazu in der Lage ist. Beispielsweise wird eine PEG-Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz oftmals mit den genannten Zieleffekten legitimiert – wissenschaftliche Evidenz dafür, dass eine PEG bei diesen Patienten eines der Ziele erreicht, gibt es jedoch bislang nicht (Synofzik 2007). Bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS) (s. Kap. 26) lässt sich durch eine PEG-Ernährung nachweislich die ALS-assoziierte Gewichtsabnahme aufhalten und teils auch eine gewisse Kräftigung des Patienten erreichen – inwieweit ein Patient davon aber auch eine verbesserte Lebensqualität erhält, wurde bislang noch nicht wissenschaftlich untersucht.

Im nächsten Schritt sollte überprüft werden, ob die angestrebten Ziele nicht nur grundsätzlich, d. h. gemäß wissenschaftlicher Evidenz, erreichbar sind, sondern ob sie auch bei dem individuellen Patienten in seiner jeweiligen Gesundheits- und Lebenssituation noch erreicht werden können – und insbesondere ob sie für ihn in seiner ganz individuellen Lebenssituation überhaupt noch erstrebenswerte Ziele darstellen.

So könnte es beispielsweise der Fall sein, dass sich bei einem schwerem Schlaganfall durch eine PEG-Ernährung zwar nachweislich grundsätzlich die Überlebenszeit verlängern und das Risiko für Lungenentzündungen durch Verschlucken von Nahrungs- und Flüssigkeitsbestandteilen (sog. Aspirationspneumonien) verringern lässt – die Überlebenden verbleiben aber häufig in einem stark eingeschränkten Gesamtzustand. Für einen einzelnen Patienten mit schwerem Schlaganfall könnte es also unter Umständen durchaus nicht mehr erstrebenswert sein, dass in einer solchen Situation sein Überleben verlängert und ein Versterben (z. B. durch eine Aspirationspneumonie) herausgezögert wird. Die Frage nach erstrebenswerten Zielen einer künstlichen Nahrungs- und Flüssigkeitsgabe lässt sich also letztlich nicht mit allgemeinen Verweisen, sondern nur mit Blick auf den individuellen Patienten mit seinen ganz individuellen Bedürfnissen und Wertvorstellungen in der jeweiligen Lebenssituation beantworten. Das bedeutet wiederum, dass eine Entscheidung über eine künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitsgabe nicht aus allgemeinen Wertvorstellungen abgeleitet werden sollte, sondern allein aus den Wertvorstellungen des individuellen Patienten.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Künstliche Ernährung und Flüssigkeitsgabe: Verfahren, Indikationen, Ziele und Risiken

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