Jüdische Medizinethik am Lebensende: Das Leben verteidigen und das Sterben zulassen




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_7


7. Jüdische Medizinethik am Lebensende: Das Leben verteidigen und das Sterben zulassen



Willy Weisz 


(1)
Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien, Österreich

 



 

Willy Weisz



Ich habe Leben und Tod vor dich gelegt,

Segen und Fluch;

wähle das Leben, auf dass du lebst

(Deuteronomium 30,19)

Alles hat seine Frist,

und eine Zeit gibt es für jedes Ding unter dem Himmel

Zeit zum Gebären und Zeit zum Sterben

(Prediger 3,1–2)

Und hütet Meine Vorschriften und Meine Gesetze,

die der Mensch tue und durch sie lebt.

(Leviticus 18,5)



7.1 Religiöse Grundlagen


Nach jüdischer Vorstellung ist sowohl die Seele als auch der Körper des Menschen eine Leihgabe Gottes. Der Mensch, dem sie übergeben wurden, soll sie so lange wie möglich in einem guten Zustand erhalten. Kann er dies nicht mehr allein besorgen, so müssen ihn seine Mitmenschen, die es gelernt haben – Arzt, Pfleger, aber auch religiöser Beistand –, dabei unterstützen, so lange und so gesund und schmerzfrei wie möglich zu leben und dabei ein Höchstmaß an persönlichem Glücksgefühl genießen zu können. Da sogar die Göttlichen Vorschriften auf das Ermöglichen von Leben ausgerichtet sind (Leviticus 18,5), darf nichts unternommen werden, was zu einer Verkürzung des eigenen Lebens oder des Lebens Anderer führt. Vielmehr muss alles getan werden, um das Leben zu erhalten – wenn erforderlich auch durch Übertretung sonst streng eingehaltener Vorschriften, z. B. dem Arbeitsverbot am Schabbat (hebr., „Ruhetag“; Samstag).

Allerdings ist der Mensch befugt, über seinen Körper zu entscheiden, insofern er bei Lebzeiten dessen Teile zur Rettung eines Mitmenschen vor dem sicheren Tod einsetzen darf (Organspende, (s. Kap. 29). Dies gilt, auch wenn dabei ein Risiko für sein eigenes Leben besteht, solange dies nicht zu seinem sicheren Ableben führt. Diese Auffassung wird abgeleitet von einer Entscheidung des Radbaz (Rabbi David ben Schlomo ibn Abi Zimra, ca. 1479–1573 oder 1589), dem folgender Fall vorgelegt wurde: Ein nicht-jüdischer Herrscher verlangt von einem Juden, dass er sich die Hand amputieren lasse, sonst werde ein Freund des Juden getötet. Er entschied, dass jener dies – trotz einer nicht ausschließbaren Gefahr für sich selbst – tun darf, aber nicht muss.

Andererseits muss der Mensch akzeptieren, dass nach Gottes Plan das Leben endlich ist. Deshalb gibt es auch einen Zeitpunkt, an dem es der Seele möglich gemacht werden muss, den Körper zu verlassen. Es ist dann sogar verboten, das Ende künstlich hinauszuzögern. Dieser Zeitpunkt darf jedoch nicht aktiv – z. B. durch Selbstmord oder Euthanasie – herbeigeführt werden. Daher ist auch der Abbruch einer Behandlung, der das Sterben bewirkt, sogar in Todesnähe verboten. Nicht verboten ist jedoch die Nicht-Wiederaufnahme einer Behandlung, wenn diese nicht das Potential der Heilung hat, sondern nur den Tod hinauszögert.


Praktische Anwendung

So ist es verboten, eine Herz-Lungen-Maschine abzuschalten, eine sich nach einiger Zeit automatisch abschaltende Maschine muss jedoch nicht wieder eingeschaltet werden. In diesem Sinne wurde in Israel, dem einzigen Land, in dem die jüdische Medizinethik mehr als nur informativen Charakter hat, eine gesetzliche Regelung erarbeitet, die der Halacha (hebr., „der Weg“, die Vorschriften für jüdisches Leben) genügt (Steinberg 2006): Eine Zeitschaltuhr steuert die lebenserhaltende Maschine. Entsprechend lange vor dem Ausschalten muss sie ein Signal abgeben, damit noch rechtzeitig eine medizinisch relevante und halachisch (der Halacha entsprechend) korrekte Entscheidung getroffen werden kann, ob ein neuer Schaltuhrzyklus aktiviert wird oder ob die Uhr die Maschine definitiv abschaltet. Auch das Nicht-Fortführen einer immer wieder neu einsetzenden Behandlung – z. B. die Verabreichung von Medikamenten oder Bestrahlungen, die ja nicht ununterbrochen durchgeführt werden – ist im weitesten Sinne als eine Nicht-Wiederaufnahme zu verstehen; dabei ist sicher die Situation des Patienten und sind in erster Linie seine Wünsche – oder ihre Interpretation durch Familienangehörige – zu beachten.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Jüdische Medizinethik am Lebensende: Das Leben verteidigen und das Sterben zulassen

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