Erblich bedingte Krankheiten, genetische Beratung und die Möglichkeit der Patientenverfügung




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_42


42. Erblich bedingte Krankheiten, genetische Beratung und die Möglichkeit der Patientenverfügung



H. Joachim Schindelhauer-Deutscher  und Wolfram Henn 


(1)
Institut für Humangenetik, Genetische Beratungsstelle, Universität des Saarlandes, Universitätsklinikum Gebäude 68, 66421 Homburg, Saar, Deutschland

 



 

H. Joachim Schindelhauer-Deutscher (Korrespondenzautor)



 

Wolfram Henn



Genetische Beratung ist eine Sonderform der sprechenden Medizin, die sich um Aufklärung von Ratsuchenden bezüglich der Möglichkeit und individuellen Sinnhaftigkeit genetischer Untersuchungen, die Einwilligung zu einem Test oder den bewussten Verzicht darauf und ggf. die Ergebniserläuterung nach einer Untersuchung bemüht. Da genetische Untersuchungen, anders als es zumeist in der klinischen Medizin der Fall ist, in der Regel keine unmittelbaren therapeutischen Konsequenzen nach sich ziehen, dient genetische Beratung vor allem der Klärung von nicht-therapeutischen Handlungsoptionen (z. B. Schul- und Berufswahl, Kinderwunsch, Schwangerschaftsabbruch, Risikoklärung für Angehörige etc.). Personen, die eine genetische Beratung in Anspruch nehmen, werden nicht als Patienten, sondern als Ratsuchende bezeichnet. Viele von ihnen sind ja nicht selbst krank – im Sinn offenkundiger oder manifester Krankheit –, sondern es handelt sich um Angehörige oder Risikopersonen (Gordon 1997).


42.1 Ethische Konzepte und Problemfelder


Oberstes ethisches Prinzip der medizinischen Genetik ist die Wahrung und Unterstützung der Patientenautonomie. Gerade weil genetische Untersuchungen zumeist nicht unmittelbar zu einer wirksamen Therapie hinführen, muss die Beratung in der wertungsneutralen Darstellung der Handlungsoptionen bestehen, aus denen die Ratsuchenden dann den für sie individuell besten Weg auswählen.

Die vier Prinzipien der genetischen Beratung sind:



  • Freiwilligkeit: Genetische Beratung stellt immer nur ein Angebot dar, die Inanspruchnahme darf nicht durch direkten oder indirekten Druck erzwungen werden.


  • Individualität: Individuelle Entscheidungen von Ratsuchenden haben Vorrang vor eventuellen Gemeinwohlüberlegungen.


  • Nicht-Direktivität: Die Beratung muss ergebnisoffen sein und überlässt dem Ratsuchenden die Entscheidung über die von ihm angestrebte Lösung; der Berater darf den Ratsuchenden nicht auf ein bestimmtes, von ihm selbst präferiertes Ergebnis hinzulenken versuchen (Clarke 1991).


  • Recht auf Nichtwissen: Inanspruchnahme und Ablehnung eines angebotenen genetischen Tests durch den Ratsuchenden haben als ethisch gleichwertig zu gelten (Damm 1999).

Konfliktpotenzial birgt genetische Beratung und Diagnostik immer dort, wo genetisches Wissen oder der Verzicht auf dessen Gewinnung oder Weitergabe für die Ratsuchenden selbst oder andere – auch ungeborene – Menschen schädlich sein kann.


Beispiele für Konfliktpotential genetischer Beratung:





  • Inwieweit muss ein Anlageträger für erblichen Darmkrebs seine Familienangehörigen über das mögliche Risiko unterrichten?


  • Besteht die Gefahr einer genetischen Diskriminierung, wenn Versicherer Kenntnis über genetische Belastungen erlangen?


  • In welchen Fällen dürfen nicht-einwilligungsfähige Personen genetisch untersucht werden?


42.2 Gesprächsführung und psychosoziale Aspekte


Zu den prägenden Prinzipien genetischer Beratung gehört die nicht-direktive oder klientenzentrierte Gesprächsführung. In Anlehnung an das Konzept von Carl Rogers (1994) zielt dieses Vorgehen auf die Unabhängigkeit und Integration des Ratsuchenden bei der Lösungsfindung ab. Das Individuum steht im Mittelpunkt der Betrachtung, nicht das abstrakte medizinische Problem. Das Ziel ist es, dem Individuum zu helfen, sich mit den genetischen Gegebenheiten eigenverantwortlich auseinanderzusetzen, so dass es mit dem gegenwärtigen Problem und gegebenenfalls späteren erneuten Problemen auf besser integrierte Weise umgehen kann.


Herausforderungen für die Beratung

Der Verwirklichung dieses nicht-direktiven Vorgehens stehen allerdings oftmals Schwierigkeiten in der Interaktion zwischen Berater und Ratsuchenden entgegen. So kollidieren auf der Beraterseite nicht selten die allgemein gültigen ethischen Prinzipien ärztlichen Handelns (Entscheidungsautonomie des Patienten, Fürsorgepflicht des Arztes, Fairness- und Gleichbehandlungsgebot sowie Vertragstreue) miteinander und erfordern vom Berater eine schwierige Güterabwägung (Clarke 1991). Ebenso schwierig kann sich die Interaktion gestalten, wenn die ethnischen, kulturellen und religiösen Hintergründe und Eigenarten des Ratsuchenden vom Berater nicht ausreichend beachtet werden (Brearley und Birchley 1995).

Kommunikationsschädlich können sich aber auch das Fehlen oder die unklare Formulierung von Beratungsvereinbarungen auswirken. Originäre Aufgabe des Beraters ist es, vor Beginn der Beratung den verfügbaren zeitlichen Gesprächsrahmen darzulegen, wobei auch die körperliche und psychische Aufnahmebereitschaft des Ratsuchenden und des Beraters zu berücksichtigen sind.

Im Sinne der Ehrlichkeit und Echtheit hat der Berater den Ratsuchenden auch über mögliche Grenzen der Vertraulichkeit gegenüber seiner eigenen Einrichtung oder Auftrag gebenden Personen und Institutionen zu informieren. Dies gilt z. B. für Auftragsbegutachtungen und den damit verbundenen Umgang des Beraters mit patientenbezogenen Befunden, Daten und Gesprächsaufzeichnungen.

Trotz der beschriebenen möglichen Kommunikationshindernisse ist das nicht-direktive oder besser klientenzentrierte (an den Bedürfnissen und Ressourcen des Ratsuchenden orientierte) Vorgehen umso angezeigter, als es sich bei humangenetischen Fragestellungen fast ausnahmslos um Themen handelt, welche die gesamte persönliche Identität des Ratsuchenden berühren. Die genetische Abklärung einer bereits bestehenden Erkrankung oder die Risikoabschätzung für das Auftreten einer genetischen Erkrankung beim Ratsuchenden selbst oder seinen Nachkommen sind Beispiele für Beratungsthemen, die den Ratsuchenden und seine Angehörigen auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig betreffen. Für einen von einer Erkrankung bedrohten oder bereits erkrankten Ratsuchenden bedeutet die genetische Diagnose in aller Regel eine schwere seelische Belastung, die komplexe und kontinuierliche Bewältigungs- und Anpassungsvorgänge erfordert (Brearley und Birchley 1995). Körperliche und geistige Veränderungen machen unter Umständen eine dramatische Neuorganisation gewohnter Lebensabläufe und Zukunftsperspektiven notwendig. Gleichzeitig kann der mitgeteilte genetische Befund aber auch Gefahren für die Rollen- und Beziehungsstruktur innerhalb der Familie nach sich ziehen. Die Beziehungen des Ratsuchenden zum Ehepartner, zu seinen Kindern, seinen Eltern und seinen Geschwistern können gleichermaßen berührt sein. Soziale Kontakte erfahren zuweilen einen rapiden Rückgang, wenn sich der Erkrankte oder von Krankheit Bedrohte aus Scham und Verzweiflung oder wenn sich Freunde und Bekannte aus Unsicherheit zurückziehen. Auch berufliche Veränderungen bis hin zum dauerhaften Arbeitsplatzverlust und damit verbunden eine deutliche Verschlechterung der finanziellen und materiellen Lebensbedingungen sind nicht selten Folgen einer genetischen Diagnosestellung.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Erblich bedingte Krankheiten, genetische Beratung und die Möglichkeit der Patientenverfügung

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