Entscheidungen in Grenzsituationen und ärztliches Selbstverständnis




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_20


20. Entscheidungen in Grenzsituationen und ärztliches Selbstverständnis



H. Christof Müller-Busch 


(1)
Ltd. Arzt i. R. Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Rüsternallee 45, 14050 Berlin, Deutschland

 



 

H. Christof Müller-Busch




20.1 Einleitung


Ärztliches Handeln in sterbenahen Situationen beruht auf ethischen Grundsätzen und moralischen Verpflichtungen, das im Spannungsfeld von Sorge für den kranken Menschen und Selbstbestimmung des Betroffenen die veränderten Bedingungen, unter denen Sterben und Tod durch die Möglichkeiten der modernen Medizin stattfindet, berücksichtigen muss und mit der Bereitschaft verbunden ist, Verantwortung zu übernehmen.

Entscheidungen am Ende des Lebens werden in den letzten Jahren zunehmend zum Thema öffentlicher Diskussionen und kontroverser Debatten gemacht, die von unterschiedlichen Interessen bestimmt werden. Die Möglichkeiten der Medizin, das Leben zu verlängern und Organfunktionen zu ersetzen, haben dazu beigetragen, dass einerseits diese Möglichkeiten auch in einem hohen Maße angewendet werden. Andererseits wird aber die Frage der Verantwortlichkeit, wann und unter welchen Voraussetzungen Entscheidungen zur Lebensbegrenzung getroffen werden, unzureichend reflektiert.

Sowohl unter Ärzten als auch in der Öffentlichkeit ist hierzu erhebliche Unsicherheit entstanden, zumal die Rechtsprechung in den letzten 20 Jahren in einer Reihe von Urteilen die Bedeutung der Selbstbestimmung bei lebensbegrenzenden Entscheidungen hervorgehoben hat.



Die moderne Medizin kann mit dem Ziel, Lebenszeit zu verlängern, fast alle Organe ersetzen bzw. ihre Funktionen künstlich aufrechterhalten. Entscheidungen hierzu beim Auftreten einer zum Tode führenden Erkrankung oder eines unumkehrbaren Multiorganversagens bestimmen zunehmend sowohl die Art und den Ort des Sterbens als auch den Zeitpunkt des Todes. Über die Frage, wie und nach welchen Kriterien potenziell lebensverlängernde Möglichkeiten in der modernen Medizin eingesetzt werden, besteht jedoch nicht immer Konsens. Im Vordergrund des Sterbens steht also nicht mehr wie früher nur das Nachlassen elementarer Lebens- und Körperfunktionen; sondern das Abwägen von Behandlungsoptionen. Die vor dem Eintritt des endgültigen biologischen Organversagens liegende Lebensphase wird durch Entscheidungen geprägt, in denen individuelle und soziale Interessen sowie gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen zum Ausdruck kommen.

Bei alten Menschen ist deren Rückzug, Schwäche, Bettlägerigkeit, Interesseverlust, weniger Essen und Trinken und eine gelegentlich zu beobachtende, wissend ahnende Abschiednahme nicht immer nur Ausdruck der körperlichen Bedingungen. Für die Lebenswelten von vielen alten Menschen spielen auch psychische und soziale Gründe eine Rolle. Diese Gründe haben dazu geführt, neben dem biologischen auch ein soziales und ein psychisches Sterben zu unterscheiden, welche die Entscheidungen am Lebensende mitbestimmen.

Der wachsende Anteil sehr alter Menschen in der Bevölkerung stellt die Gesellschaft vor neue Herausforderungen, die alle Lebensbereiche des alten Menschen betreffen, wie Wohnen, Dienstleistungen, Infrastruktur und Pflege. Entscheidungen am Lebensende berühren deswegen nicht nur die Medizin.

So ist es verständlich, dass in der Konfrontation mit den wachsenden medizinischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung viele Menschen den Wunsch haben, gerade für die letzte Zeit des Lebens Vorsorge zu treffen und sie selbst mitzugestalten. Dabei spielt die Frage eine entscheidende Rolle, unter welchen nicht nur rein medizinischen Umständen und um welchen Preis lebensverlängernde Maßnahmen eingesetzt werden sollen.


Individuelle und soziale Bewertung lebensverlängernder Maßnahmen

So muss die Diskussion über Patientenverfügungen und Vorsorgeplanung auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Schlussfolgerungen über die Indikationsstellung und individuelle Bewertung lebensverlängernder Maßnahmen gesehen werden, wobei zunehmend auch soziale Probleme des demographischen Wandels, z. B. Gesundheitskosten, Wohn- und Betreuungssituation und Priorisierungen im Gesundheitswesen Entscheidungen am Lebensende mitbestimmen. Das Spannungsfeld der sich zwischen ärztlicher Fürsorge und Anerkennung von Selbstbestimmung bewegenden Entscheidungsprobleme wird besonders deutlich, wenn es um Fragen der Tötung auf Verlangen (Euthanasie) im Unterschied zu palliativer Versorgung geht.


20.2 Ärztliches Selbstverständnis und Entscheidungsprobleme


Durch die Möglichkeiten und Komplexität der modernen Medizin hat sich das ärztliche Selbstverständnis in den letzten 50 Jahren entscheidend gewandelt. Die neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten haben dazu geführt, dass medizinisches Wissen zwar sehr breit verfügbar ist, aber nicht überall anwendbar. Die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten sind nicht mehr klar – zumal im wirtschaftlichen Wettbewerb auch die Gesundheitsversorgung als Markt entdeckt wurde und von den Regeln der Ökonomie bestimmt wird. Gleichzeitig sind die Erwartungen an diese Möglichkeiten gestiegen.

Die Vorstellungen und Wünsche der Patienten als Betroffene und Angehörige spielen für Entscheidungen zu Behandlungsoptionen eine zunehmend größere Rolle, so dass sich die Arzt-Patientenbeziehung tendenziell von einem eher paternalistisch geprägten Modell wegbewegt hat, in dem der Arzt dem Patienten in väterlicher Manier das Gute für den Patienten empfiehlt. Aktuell steht ein partnerschaftlich orientiertes Modell im Vordergrund, welches durch Aufklärung und Information des Patienten dessen Autonomie und Selbstverantwortung als Grundlage des Entscheidens unterstützen möchte.

Allerdings trägt dieses Modell auch Konfliktpotential in sich, das sowohl bei Ärzten als auch bei Betroffenen zu Verunsicherung im Rollenverständnis geführt hat und weiterhin führt. So wird der Arzt häufig als Dienstleister einer Leistungserbringer-Kunden-Beziehung verstanden, deren Leistungsangebot und vertragliches Beziehungsverhältnis die Entscheidungen des Patienten zum Leistungsumfang eher bestimmt als der an den gesundheitlichen Bedürfnissen gemeinsam bestimmte Nutzen. Durch die zunehmende Bedeutung von Wirtschaftlichkeitsaspekten in der Gesundheitsversorgung werden, auch aus Sicht der Ärzte, Patienten oft als Kunden gesehen und weniger als Partner (Kick 2006). Die Beziehungen werden durch Vertragsverhältnisse geregelt und weniger durch Vertrauen und Intimität bestimmt, in denen es in gegenseitigem Respekt am Lebensende bzw. bei fortgeschrittenen Erkrankungssituationen auch um die Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen geht – besonders dann, wenn diese den Einsatz oder den Verzicht von Möglichkeiten zur Lebensverlängerung zum Thema haben.

Hinzu kommt, dass sich durch fachorientierte Spezialisierungen im ärztlichen Selbstverständnis eine Sicht entwickelt hat, die sehr stark krankheits-, organ- oder funktionsbezogen ist. Hierdurch werden kranke Menschen in weiteren Dimensionen des Krankseins (z. B. Krankseinserfahrungen, sozialen Bezügen, spirituellen Fragen, ontologischen Bestimmungen) nur wenig berücksichtigt, was besonders in der von vielfältigen sozialen Problemen geprägten Altersmedizin von Bedeutung ist. Im professionellen Selbstverständnis sehen sich Ärzte heute meist nur noch als spezialisierte Experten für bestimmte körperliche oder seelische Bereiche, denen gegenüber sie sich allerdings verpflichtet und berufsethisch verantwortlich fühlen.


Heil vs. Wille des Patienten

Auch die Entwicklung, dass sich der traditionelle Grundsatz zum Wohl des Patienten als oberstes Gesetz (lat. salus aegroti suprema lex „Das Heil des Kranken sei höchstes Gesetz!“) zugunsten einer stärker auf den Willen des Patienten als oberstes Gesetz bezogenen Orientierung (lat. voluntas aegroti suprema lex „Der Wille des Kranken sei höchstes Gesetz!“) verschoben hat, hat zu einer veränderten Rollenbestimmung des Arztes geführt. Im Zusammenhang mit der Autonomiedebatte führt dies gleichzeitig zu einer Auseinandersetzung über die eigentlichen Aufgaben und Ziele medizinischen Handelns. Zwar benötigt die Durchführung medizinischer Entscheidungen inzwischen ganz selbstverständlich eine rechtliche Legitimierung. Die Verrechtlichung der Medizin hat aber auch dazu geführt, die Frage nach der medizinischen Indikation nochmals auch unter der Berücksichtigung des Willens neu zu stellen und diese nicht nur nach den technischen Möglichkeiten des Lebenserhalts um jeden Preis zu beantworten.

Die Arzt-Patient-Beziehung bleibt durch eine sachbezogene Asymmetrie gekennzeichnet, in der der Arzt durch seine Fachkompetenz Krankheitssituationen im Hinblick auf Prognose und Verlauf i. d. R. besser einschätzen kann als der Patient als medizinischer Laie. Aus dieser Fachkompetenz kann allerdings nicht zwingend eine Beurteilungskompetenz hergeleitet werden, durch die ein Arzt einzelfallbezogen beurteilen könnte, was für den anderen richtig und gut ist. Daraus können in sterbenahen Situationen Unsicherheiten und Konflikte entstehen, wenn vom Arzt erwartet wird, medizinische Maßnahmen – auch mit ungewisser Aussicht auf Erfolg – einzusetzen oder diese zu begrenzen und er dabei auch dem Willen bzw. den Wertvorstellungen des Patienten gerecht werden soll.

Thure von Uexküll hat darauf hingewiesen, dass Krankheit immer Autonomieeinschränkung bzw. -verlust darstellt und die Wiederherstellung, Stärkung bzw. zumindest die Respektierung einer in Grenzsituationen evtl. nur noch teilweise vorhandenen Autonomie zu den Grundprinzipien der modernen Medizin gehört. „Die Autonomie des Menschen ist das Fundament seiner Freiheit […] auf ihr beruht die Würde seines Mensch-Seins, deren Gewicht wir, wie so oft, erst in dem Augenblick des Verlusts wirklich wahrnehmen“ (v. Uexküll und Wesiack 1998, S. 456). Autonomie beinhaltet als Wesensmerkmal des Menschen die Fähigkeit über die eigenen Kräfte zu verfügen. In diesem Sinne ist Autonomie das Grundelement des Lebens, ein Synonym für Würde. Autonomie ist Selbstverwirklichung und Selbstbeschränkung. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. So stellt sich für jedes menschliche Wesen die Aufgabe, in Selbstverantwortung den Ausgleich zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbeschränkung zu finden. Auch Mitscherlich hat schon in seinem 1947 erstmals veröffentlichten Buch „Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit“ auf die Schwierigkeiten hingewiesen, dieser Selbstverantwortung in Situationen des Krankseins, besonders des kritisch Krankseins, zu entsprechen, indem auch er die Stärkung der Autonomie als Orientierungspunkt für Entscheidungen hervorhob (Mitscherlich 1948).

In Grenzsituationen zwischen Leben und Tod, insbesondere am Lebensbeginn und am Lebensende, stellt sich somit häufig die Frage, welche Dimensionen der Autonomie, gefördert, bewahrt bzw. geschützt werden müssen bzw. sollen.

Dies ist natürlich dann mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, wenn Selbstbestimmungsmöglichkeit, freier Wille und freie Urteilsfähigkeit eingeschränkt sind. Wenn sich das Fühlen eines schwerstkranken Menschen am Lebensende mehr und mehr auf die anderen immer weniger zugängliche eigene Erlebniswelt konzentriert und vielleicht nur noch wenig nachvollziehbare Willensmanifestationen erkennbar sind, dann bedeutet die Sorge und Begleitung eines solchen Menschen auch, Bereitschaft zur Mitverantwortung für das besondere, das autonome Sterben dieses Menschen zu übernehmen.


20.3 Bedingungen des Sterbens im 21. Jahrhundert


Im Jahre 2012 verstarben in Deutschland ca. 860.000 Menschen. Mehr als 50 % aller Verstorbenen waren über 80 Jahre alt. Die Zahl der Hochaltrigen und damit auch der pflegebedürftigen Menschen ist besonders in den letzten 30 Jahren ständig gestiegen und wird in den nächsten Jahren weiter steigen. 80 % der über 80-Jährigen leben mit und leiden an mindestens zwei chronischen Erkrankungen (Bundestag 2002). Das Nebeneinander von verschiedenen Krankheiten, die gleichzeitig oder auch zeitlich versetzt auftreten und die vielfach zu den chronischen Krankheiten gehören – die Multimorbidität – ist ein Charakteristikum des älteren Menschen. Das Statistische Bundesamt rechnet im Jahre 2050 mit 8 Mio. Menschen, die ein Alter von 80 Jahren und mehr vorweisen. Schon jetzt liegt der Anteil der Pflegebedürftigen bei den 80- bis 84-Jährigen bei fast 40 % und bei den über 90-Jährigen bei über 60 % (Statistisches Bundesamt 2006).

Der Schlaganfall stellt gegenwärtig die häufigste Ursache für langfristige Behinderungen und damit verbundene Entscheidungsunfähigkeit im Erwachsenenalter dar. Ungefähr 500.000 pflegebedürftige Schlaganfallkranke mit Spätfolgen sind zu jedem Zeitpunkt zu versorgen (Schauder et al. 2006, S. 241). Ein weiterer Grund für eine erworbene Entscheidungsunfähigkeit sind Wiederbelebungen nach einem Herz-Kreislaufstillstand. Ca. 90.000 bis 150.000 Menschen jährlich erleiden in Deutschland einen Herzinfarkt, mit zunehmender Tendenz. Der Herzstillstand ist mit 70 % der häufigste Anlass für eine Wiederbelebung. Mindestens 20 % der reanimierten Menschen bleiben in einem länger andauernden Zustand der Nichtentscheidungsfähigkeit. Auch Demenzerkrankungen nehmen im Zusammenhang mit Pflegebedürftigkeit einen hohen Stellenwert ein. Bei den über 80-Jährigen ist heute jeder fünfte von einer Demenz betroffen, bei den über 90-Jährigen jeder dritte. In den nächsten Jahren ist mit einem Anstieg der Zahl Demenzerkrankter zu rechnen: Bis zum Jahr 2020 wird ihre Zahl von derzeit ca. 1,4 Mio. auf ca. 2 Mio. und bis zum Jahr 2050 auf mehr als 3 Mio. anwachsen (Schulz et al. 2001).

Die Angst vor Pflegebedürftigkeit und Siechtum, z. B. in Folge eines Schlaganfalls oder einer Reanimation, bzw. vor einer dementiellen Entwicklung beschäftigt mehr und mehr Menschen, so dass sie sich mit dem Gedanken einer Vorsorge beschäftigen.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Entscheidungen in Grenzsituationen und ärztliches Selbstverständnis

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