Diagnostik, Verlauf und Formen der Demenz




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_27


27. Diagnostik, Verlauf und Formen der Demenz



Hans Georg Nehen  und Arnd T. May 


(1)
Klinik für Geriatrie, Geriatrie-Zentrum Haus-Berge, Germaniastr. 3, 45356 Essen, Deutschland

(2)
Ethikzentrum.de – Zentrum für Angewandte Ethik, Hohenzollernstr. 76, 45659 Recklinghausen, Deutschland

 



 

Hans Georg Nehen (Korrespondenzautor)



 

Arnd T. May




27.1 Einleitung


Durch die demographische Entwicklung der letzten 20 Jahre hat das Thema Demenz zahlreiche Bereiche des Gesundheitssystems beeinflusst. Die Zahl der betagten und hochbetagten Patienten steigt ständig an. Die Krankheitshäufigkeit (Prävalenz, von lat. praevalere, „sehr stark sein“; Anzahl der Erkrankten in einer bestimmten Gruppe der Bevölkerung) von Demenzen liegt in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen bei ca. 2 %. Dieser Wert verdoppelt sich alle 5 Jahre. Bei den über 90-Jährigen leiden über 40 % an einer mittelschweren oder schweren Demenz. Beachtet man auch die leichten und beginnenden Formen der Demenzen, liegen die Zahlen noch höher. Eine Demenz ist der weitaus häufigste Grund für eine Heimaufnahme.

Bei Verdacht auf eine beginnende Demenz ist es Aufgabe des Arztes, eine entsprechende Diagnostik einzuleiten. Bei den Patienten, die nicht aus eigenem Antrieb den Arzt aufsuchen, weil sie selbst eine Demenz befürchten, ruft die Äußerung eines Demenzverdachtes häufig heftige Widerstandsreaktionen hervor. Eine frühe Differenzialdiagnose kann jedoch zu einer gezielten Therapie führen bzw. evtl. auch die Lebensplanung des Patienten wesentlich beeinflussen.

Das Demenzsyndrom wird diagnostiziert nach den Kriterien der ICD 10 GM (WHO 2009) und des DSM-IV-TR (APA 2000). Fasst man die Kriterien der beiden Diagnosesysteme zusammen, so wird das Demenzsyndrom durch folgende gemeinsame Merkmale definiert:



  • Ein Demenzsyndrom liegt vor, wenn eine schwerwiegende Hirnveränderung zu einem deutlichen Verlust geistiger Fähigkeiten führt und zu einer Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens, verglichen mit dem Ausgangsniveau des Patienten.


  • Nach ICD 10 wird dabei gefordert, dass der Patient bewusstseinsklar ist, dass eine Depression ausgeschlossen ist und dass die Symptomatik wenigstens sechs Monate lang andauert. Dieser Zeitrahmen kann auch rückblickend festgestellt werden.


  • Das Hauptsymptom ist die Gedächtnisstörung. Dabei wird zwischen Langzeitgedächtnis und Kurzeitgedächtnis unterschieden.

Das Kurzzeitgedächtnis umfasst bei Menschen etwa sieben bis zehn Sekunden. Nur bei intaktem Kurzzeitgedächtnis können Informationen im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Bei Demenzpatienten bleibt der Zugriff auf Inhalte des Langzeitgedächtnisses lange erhalten; bei gestörtem Kurzzeitgedächtnis können jedoch keine neuen Inhalte in das Langzeitgedächtnis aufgenommen werden. Der Patient ist nicht mehr lernfähig.

Die Störung des episodischen Gedächtnisses mit der Folge der Störung der Erinnerung an persönliche Erlebnisse gehört zu den Initialsyndromen der Alzheimerdemenz.

Neben den Gedächtnisstörungen können folgende weitere Störungen bestehen:





  • Aphasie (griech. aphasia, „Sprachlosigkeit“; Störung von Sprache, Sprachverständnis und Sprachflüssigkeit)


  • Apraxie (griech. apraxia, „Untätigkeit“; Unfähigkeit motorische Aktivitäten des täglichen Lebens sinnvoll auszuführen)


  • Agnosie (griech. agnosia, „Unkenntnis“; Unfähigkeit Gegenstände wiederzuerkennen)


  • Störungen des abstrakten Denkens und des Urteilsvermögens

Das diagnostische Vorgehen ergibt sich aus der Definition der Demenz und der dargestellten Symptomatologie. Es umfasst:

1.

Anamnese und Fremdanamnese,

 

2.

Körperliche Untersuchung,

 

3.

Psychometrische Tests einschließlich Funktionsskalen,

 

4.

Laboruntersuchungen,

 

5.

Apparative Untersuchungen.

 


27.2 Anamnese


Grundsätzlich ist die Anamnese auch bei Demenzpatienten der wichtigste Schritt zur Diagnose. Die Anamnese sollte in Form eines halbstrukturierten Interviews ablaufen, wobei folgende Bereiche von Bedeutung sind:





  • Beobachtung des Patienten (geordnete Kleidung, Einhalten sozialer Konventionen etc.);


  • Sprachliche Äußerungen (Wortfindungsstörungen, Paraphrasien (von altgriech. para, „daneben, dabei“ und phrazein, „reden, sagen“; Umschreibungen), Wiederholungen u. a.);


  • Lebensgeschichte des Patienten (Sozialisation; eventuelle psychische Traumatisierungen, schulische Ausbildung, Berufsausbildung, Eheschließung, Kinder, Enkel, Hobbys, Haushaltsführung);


  • Veränderungen, die der Patient selbst erlebt hat (Konzentration, Wortfindung, Lernen neuer Inhalte);


  • Dauer der Beschwerden;


  • auslösende Situationen, z. B. für Orientierungsstörungen (Urlaub in fremder Umgebung, Stresssituationen, schwere Erkrankungen).

Gleichzeitig wird beobachtet, ob die emotionale Schwingungsfähigkeit des Patienten im Verlauf des Gespräches vorhanden ist bzw. welche Themen ihn besonders beschäftigen oder bewegen.

Im Gespräch sollten auch die Fähigkeiten überprüft werden, das aktuelle Tagesgeschehen zu interpretieren, Phantasien und Zukunftsvisionen zu entwickeln sowie in sozialen Interaktionen Konflikte durchstehen zu können.

Zur Anamnese gehören auch vorangegangene Erkrankungen. In diesem Zusammenhang sind wichtig: Schädel-Hirn-Traumen, Morbus Parkinson, Apoplexie (griech. apoplexia, „Schlag“; Schlaganfall), Depressionen, Schlafapnoesyndrom (phasenhaftes Aussetzen der Atmung im Schlaf), vaskuläre Risikofaktoren durch die Blutgefäße verengende Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen (Leberzirrhose, Morbus Wilson bzw. Kupferspeicherkrankheit, Diabetes), Ernährungsstörungen, Autoimmunerkrankungen und schwerwiegende Infektionskrankheiten (Tuberkulose (TBC), HIV (Humane Immundefizienz-Virus), Syphilis).

Auch bei leichten Störungen sollte versucht werden, eine Fremdanamnese durchzuführen. Diese sollte unbedingt in Abwesenheit des Patienten erhoben werden. Ehepartner, Kinder oder andere nahestehende Personen werden es eher vermeiden, in Anwesenheit des Patienten auf dessen Defizite hinzuweisen. Jedoch dürfen die fremdanamnestischen Angaben nicht kritiklos übernommen werden, da sie durch unterschiedliche Motive geprägt sein können.


27.3 Körperliche Untersuchung


Bei der körperlichen Untersuchung bietet die Beobachtung des Patienten ebenfalls wertvolle diagnostische Hinweise. Ist der Patient in der Lage sich alleine an- und auszuziehen, kann er entsprechenden Anforderungen des Untersuchers Folge leisten etc.?

Bei der körperlichen Untersuchung wird zunächst der Allgemeinzustand beurteilt, wie Ernährungszustand, vegetative Zeichen, Hautveränderungen (Verbrennungen, Hämatome (blaue Flecke)). Darüber hinaus umfasst die körperliche Untersuchung die Beurteilung des Herzkreislaufsystems (Blutdruck, Puls, Herztöne und Geräusche der Hauptschlagadern (Carotiden)), die Lungenfunktion, die Organe des Bauchraumes (Abdominalorgane) und den Bewegungsapparat (Tremor (Zittern), Rigor (Steifheit), Hypokinesie (griech. ipokinisi, von ipo-, „weniger“ und kinisi, „die Bewegung“; Bewegungsarmut), kleinschrittiger Gang, Spastik (Verkrampfungen)) sowie den neurologischen Status (Beurteilung von Hirnnerven, Halbseitensymptomatik etc.).


27.4 Psychometrische Testuntersuchungen


In den Frühformen der Demenz bewahrt der Patient eine scheinbar intakte Fassade. Die objektivierbaren kognitiven Leistungen können davon stark abweichen. Zudem sind Verlaufsuntersuchungen ohne standardisierte Leistungsmessungen nicht möglich. Die meisten Screening-Tests setzen sich aus mehreren Untertests zusammen. Folgende Funktionen werden hierbei geprüft:





  • Orientierung (Ort, Zeit, Person)


  • Sprachliche Funktionen (Sätze schreiben, Gegenstände benennen)


  • Verbale Flüssigkeit (Worte mit gleichen Anfangsbuchstaben, Supermarktaufgabe)


  • Erinnerungsvermögen (Lernen von Begriffen, die unmittelbar wiedergegeben werden müssen und/oder nach einem Zeitintervall)


  • Visuell-räumliche Kompetenz (z. B. Uhrentest)

Insbesondere bei Patienten mit Alzheimer-Demenz sind das verbale episodische Langzeitgedächtnis, die Wortfindung und -flüssigkeit, die Abstraktionsfähigkeit und die visuell-konstruktiven Kompetenzen (räumliche Wahrnehmung) bereits früh gestört.

Neuropsychologische Testuntersuchungen können bei klinisch nicht eindeutigem Befund oder zur ätiologischen Zuordnung (Erklärung der Ursachen) eines Demenz-Syndroms einen wesentlichen Beitrag leisten. Eine Demenzdiagnose kann jedoch nie allein anhand eines neuropsychologischen Tests gestellt werden. Die Interpretation der Testergebnisse muss immer auf dem Hintergrund der Informationen aus der Anamnese erfolgen und Ausbildungsgrad, früheres Leistungsniveau, Sprachkompetenz, sensorische Einschränkungen und frühere Erkrankungen mitberücksichtigen.

Die Testuntersuchungen decken Defizite des Patienten unmittelbar auf, was bei Patienten Angst auslösen kann. Daher muss jede Testuntersuchung behutsam vermittelt werden und peinliche Situationen müssen unbedingt vermieden werden.

Es gibt eine Fülle verschiedener Testuntersuchungen. Kurztestverfahren können bei leichter oder fraglicher Demenz unzureichend sein. Hier können Spezialverfahren eingesetzt werden, die einzelne kognitive Domänen genauer abbilden.

Häufig eingesetzte Testverfahren sind folgende:


Minimental-Statustest (MMST; Folstein et al. 1975)

Zeitaufwand: fünfzehn Minuten

Der Test besteht aus zehn Bereichen, in denen Orientierung, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Sprache und visuomotorische Funktionen überprüft werden. Insgesamt können 30 Punkte erreicht werden. Bei Werten unter 25 von 30 Punkten besteht ein starker Demenzverdacht. Veränderungen von drei bis vier Punkten im Verlauf eines Jahres erhärten den Verdacht einer Alzheimerdemenz. Für die Frühdiagnostik ist der MMST insbesondere bei sehr intelligenten Menschen nicht geeignet, da hier die Demenzschwelle erst bei einer starken Beeinträchtigung des Leistungsniveaus erreicht wird.


Uhrenzeichen-Test (UZT; Sunderland et al. 1989)

Zeitaufwand: fünf Minuten

Dieser Test überprüft visuell-konstruktive Funktionen und problemlösendes Denken. Er ist bereits bei leichter Demenz sensitiv. Der Test ist sehr einfach. Vorgegeben wird ein runder Kreis. Der Patient erhält die Anweisung: zeichnen sie das Zifferblatt einer Uhr, stellen sie die Zeiger auf zehn nach elf.

Für die Auswertung sind vier Kriterien relevant:





  • Die zwölf Zahlen sind vorhanden;


  • die Zwölf ist korrekt platziert;


  • die Zeiger haben eine korrekte Proportion und zeigen die richtige Positionen;


  • der Patient liest die Zeit korrekt vor.


DemTECT (Kessler et al. 2000)

Zeitaufwand: ca. acht Minuten

Dieser Test eignet sich zur frühen Demenzdiagnostik. Er besteht aus fünf Aufgaben, welche die Gedächtnisleistungen prüfen. Dabei werden das verzögerte Erinnern, die sprachliche Flüssigkeit und das Transkodieren von Zahlen (Umsetzen von Zahlen in Wörter bzw. Wörter in Zahlen) fokussiert. Auf Fragen zur Orientierung wird verzichtet.


TFDD Test zur Früherkennung von Demenz mit Depressionsabgrenzung (Ihl et al. 2000)

Zeitaufwand: ca. zehn Minuten

Der Test enthält einen Demenzteil und einen Depressionsteil. Im Demenzteil wird eine Wortliste vorgelegt und sofort abgefragt. Die gleiche Liste wird verzögert noch einmal abgefragt.

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Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Diagnostik, Verlauf und Formen der Demenz

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