„Das kann er doch selber gar nicht entscheiden!“




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_37


37. „Das kann er doch selber gar nicht entscheiden!“



Brigitte Huber 


(1)
Bioethik-Beauftragte des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB)., Eversbuschstraße 46a, 80999 München, Deutschland

 



 

Brigitte Huber



Die Werte-Analyse ist ein Instrument der Willensbildung und zur Eruierung der persönlichen Wertvorstellungen, insbesondere bei Menschen mit geistiger Behinderung.



37.1 End-of-Life-Decisions für Menschen mit Behinderung




Der Begriff geistige Behinderung hat eine längere Entwicklungsgeschichte und ist umstritten. Trotz der unscharfen und umstrittenen Definitionen hat er sich weitgehend durchgesetzt, um die spezifischen Einschränkungen mentaler oder kognitiver Fähigkeiten von anderen Beeinträchtigungen abzugrenzen.


Beispiel

Bei einem schwer behinderten Mann stand die Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen an. Die Mutter wurde nach dem Willen ihres Sohnes befragt. Ihre Antwort war: „Das muss ich entscheiden, das kann er doch selber gar nicht entscheiden!“

Angehörige und rechtliche Betreuer treffen häufig stellvertretende Entscheidungen, weil sie – wie selbstverständlich und in vielen Fällen auch zutreffenderweise – davon ausgehen, dass Menschen mit Behinderung dazu nicht in der Lage seien. Ebenso wie Ärzte, sehen auch sie sich im Falle einer schweren Erkrankung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und hohem Unterstützungsbedarf in großer Entscheidungsnot und mit vielen offenen Fragen konfrontiert. Wie sind leibliche Äußerungen zu interpretieren? Die Unsicherheit der Prognose, die oft gravierenden Kommunikationsbarrieren, eine stellvertretende Einwilligung in risikoreiche medizinische Maßnahmen, aber auch die Verweigerung der Einwilligung durch den Patienten selbst, werden als große seelische Belastung empfunden. Vor diesem spezifischen Hintergrund kann über den Willen der Patienten häufig nur gemutmaßt werden.


37.2 Welche Orientierung haben wir?


Brauchen wir angesichts dieser Herausforderungen eine besondere Ethik? Reichen nicht die Grundrechte unserer Verfassung und die Allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948? So wie die Rechte von Menschen mit Behinderung in der UN-Konvention nur noch einmal verstärkt und auf diesen Personenkreis zugespitzt werden, so sollten wir uns ethische Prinzipien auferlegen, um den Bedürfnissen dieser besonders vulnerablen (lat. vulnerare „verletzen“) Personengruppe gerecht zu werden.

Die ethischen Prinzipien der Medizin nach Beauchamp und Childress (1994) sind als Georgetown-Mantra allgemein anerkannt (May 2005, S. 36 u. a.). Zunehmend werden auch die von Marianne Rabe entwickelten ethischen Prinzipien in der Pflege (Rabe 2009, S. 125 ff.) übernommen. Was hat in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung darüber hinaus zu gelten?

Ich möchte im Folgenden zehn ergänzende Thesen oder Prinzipien vorschlagen:



1.

Das Leben ist vielfältig. Behinderung ist Ausdruck der Vielfalt und nicht a priori gleichzusetzen mit Leid.

 

2.

Behinderung ist ein soziales Konstrukt. „Sie entsteht, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen auf einstellungs- und umweltbedingte Barrieren stoßen, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben hindert“ (UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung 2009, Präambel Buchstabe e).

 

3.

Der Mensch ist der Unfertige und dadurch immer ein Werdender (mit einem Recht auf Unvollkommenheit).

 

4.

Mensch-Sein bedeutet grundsätzliches gegenseitiges Angewiesensein. Selbstbestimmung (ggf. unterstützte Selbstbestimmung) und Fürsorge sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander.

 

5.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben, auf Autonomie, auf Solidarität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Nicht Integration (der Begriff impliziert, dass die betroffenen Personen nur eine bedingte Teilhabe erfahren), sondern Inklusion ist das gesellschaftliche Ziel. Inklusion heißt nicht, Menschen mit Behinderung an die Normalität anzupassen, sondern sie, wie jeden Menschen, als Person anzuerkennen.

 

6.

Anerkennung des Rechts auf Anders-Sein, Respekt vor der eigenen inneren Welt des anderen und Verzicht auf Orientierung an der vermeintlich normalen Welt.

 

7.

Es gilt der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen, trotz Differenz und Asymmetrie untereinander.

 

8.

Fürsorge heißt heute, durch eine Ethik der Achtsamkeit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu fördern und stellvertretende Entscheidungen nur als ultima ratio in Betracht zu ziehen. Achtsamkeit ist gefordert auf der Ebene des Handelns, der Sprache und der inneren Haltung.

 

9.

Menschen mit Behinderung haben das Recht auf lebenslanges Lernen. Sie verfügen über eigene Fähigkeiten und Begabungen; mit ihnen leisten sie ihren spezifischen unverzichtbaren Beitrag zum Wohl der Gesellschaft.

 

10.

Fremdbestimmung und Paternalismus sollten ersetzt werden durch Empowerment (Befähigung zur Selbstkompetenz) und Förderung des subjektiven Wohls des Individuums durch Beachtung aller Willensbekundungen.

 

Die Autonomie von Menschen mit geistiger Behinderung wird heute zwar grundsätzlich anerkannt, doch bedeutet die Eruierung ihrer Wünsche und ihres mutmaßlichen Willens am Lebensende für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung. Meistens wird erst ernsthaft danach eruiert, wenn die Zeit schon zu knapp ist. Darauf aber haben Menschen, für die eine rechtliche Betreuung besteht, einen Rechtsanspruch (§ 1901 Abs. 2 BGB). Dieser gesetzliche Rahmen hat analog auch in der Pflege und Begleitung von alten Menschen und Menschen mit Behinderung zu gelten, selbst wenn keine rechtliche Betreuung angeordnet ist.

Ein weiterer rechtlicher und ethischer Rahmen ist die o. g. UN-Konvention.

Artikel 12 – gleiche Anerkennung vor dem Recht – besagt: „Menschen mit Behinderung haben das Recht auf die Unterstützung, die sie brauchen. […] Die Rechte, der Wille und die Präferenzen der betreffenden Person sind zu achten.“

Artikel 8 – Gesundheit – fordert, dass die Staaten Angehörige der Gesundheitsberufe zu Schulungen und zum Erlass ethischer Normen verpflichten.

Artikel 26 – Habilitation und Rehabilitation – fordert ein Höchstmaß an Unabhängigkeit für Menschen mit Behinderung.

Die Pflege-Charta (BMFSFJ), die zunehmend von Kliniken und Pflegeheimen implementiert wird, fordert in Artikel 1 Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbstbestimmung.

Um Rechte, Wille und Präferenzen von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, müssen Ärzte, Pflegende, Betreuende und Angehörige





  • sich an die Menschen mit Behinderung anpassen (nicht umgekehrt) und sich ein Wissen über die besonderen Ausdrucks- und Verhaltensweisen von Menschen mit Behinderung aneignen,


  • Rücksicht nehmen auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung,


  • und vor allem prüfen, ob Entscheidungs-/Einwilligungsfähigkeit vorliegt und ob sie ggf. hergestellt werden kann.


37.3 Was können wir in der Behindertenhilfe vorausschauend tun?


Eine Patientenverfügung ist für Personen mit mentaler oder kognitiver Beeinträchtigung meist nicht geeignet, da Verständnis, Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit oft nicht gegeben sind. Falls (noch) keine rechtliche Betreuung angeordnet ist, empfiehlt sich eine Betreuungsverfügung, da mit ihr eine vertraute Person nach eigener Wahl zum rechtlichen Vertreter bestimmt werden kann.

Only gold members can continue reading. Log In or Register to continue

Stay updated, free articles. Join our Telegram channel

Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on „Das kann er doch selber gar nicht entscheiden!“

Full access? Get Clinical Tree

Get Clinical Tree app for offline access