Beratung bei Suizidgefährdung




© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
Arnd T. May, Hartmut Kreß, Torsten Verrel und Till Wagner (Hrsg.)Patientenverfügungen10.1007/978-3-642-10246-2_44


44. Beratung bei Suizidgefährdung



Hans-Ludwig Wedler 


(1)
Goslarer Str. 115, 70499 Stuttgart, Deutschland

 



 

Hans-Ludwig Wedler




44.1 Einleitung: Zugangsprobleme




Menschen in ernsthafter Erwägung, dem eigenen Leben durch Suizid ein Ende zu setzen, suchen in aller Regel keine fachliche Hilfe oder Beratung. Sie suchen allerdings Menschen, denen sie sich mitteilen können, in der vagen Hoffnung, darüber zu einer Klärung in der eigenen Unentschiedenheit zu kommen. Professionelle Hilfe wird gemieden, meist aus der – nicht unberechtigten – Befürchtung heraus, dadurch an der Ausführung des intendierten Entschlusses gehindert zu werden.

Gesucht werden vom Suizidgefährdeten deshalb Möglichkeiten einer weitgehend anonymen, unverbindlichen Kommunikation: weniger professionelle Beratungsdienste als Telefondienste auf anonymer Basis (Telefonseelsorge) und heutzutage vor allem Internetforen. Entgegen häufig geäußerten Befürchtungen werden solche Foren in erster Linie zur Kommunikation mit in gleicher Weise Betroffenen gesucht und deutlich seltener zur Informationsgewinnung über geeignete Suizidmethoden oder mit dem Ziel, Partner für einen gemeinsamen Suizid zu finden (Eichenberg 2008).

Suizidalität ist allerdings die Folge bzw. der Abschluss einer meist lang dauernden Entwicklung, die mit hochgradigen Einengungen der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten einhergeht, oft als Folge schwerer psychischer Störungen oder Erkrankungen (Ringel 1953). Über die Kommunikation auf Selbsthilfeebene oder eine Beratung durch in ähnlicher Weise Betroffene hinaus bedarf der Suizidgefährdete deshalb in aller Regel zusätzlich professioneller Hilfe. Ihn zu motivieren, solche Hilfe zu suchen und anzunehmen, ist die erste und zugleich größte Hürde einer wirksamen Beratung bei Suizidgefährdung.

Eine weitere Schwierigkeit folgt aus der Tatsache, dass Suizidalität nicht (mit biologischen oder psychologischen Messmethoden) objektivierbar, sondern auf Erfahrung und subjektive Einschätzung der Gefährdung durch den Berater bzw. Therapeuten angewiesen ist. (Als grundsätzlich jedem Menschen verfügbare Möglichkeit dürften Suizidgedanken niemandem völlig fremd sein, auch wenn sie nur von wenigen im Laufe des Lebens in die Tat umgesetzt werden.) Einen groben Rahmen für die Verortung von Suizidalität gibt ▶ Spektrum der Suizidalität. Eine nähere Beurteilung der Gefährdung bedarf immer der persönlichen Kommunikation.


Spektrum der Suizidalität

Suizidal ist:



  • wer davon spricht,


  • wer Suizidpläne äußert,


  • wer akut eine Suizidhandlung durchgeführt hat,


  • wer Andeutungen macht, das Leben habe für ihn seinen Sinn verloren,


  • wer – auf Suizidalität angesprochen – sich verschließt und spürbar etwas verschweigt.


44.2 Erstkontakt und Krisenintervention


Gelingt es, den Kontakt zum Suizidgefährdeten herzustellen, ist damit meist bereits eine deutliche Minderung akuter Suizidalität verbunden. Entscheidend ist im Erstkontakt, dass sich der Berater nicht scheut, vermutete Suizidalität direkt anzusprechen – etwa aufgrund der (unberechtigten) Angst, Suizidgedanken auf diese Weise zu intendieren. Das Gegenteil ist der Fall: Die Ansprache von Suizidalität führt bei Betroffenen regelhaft zu einer augenblicklichen Entlastung. Das weitere Vorgehen in der Beratung bei Suizidalität wird als Krisenintervention bezeichnet.

Krisenintervention hat nur eine begrenzte und an Gegenwart und unmittelbarer Zukunft orientierte Zielsetzung (▶ Ziele der Krisenintervention), sie ist noch keine Therapie. Es geht darum, zunächst eine Kommunikationsebene herzustellen, Zeit zu gewinnen und darüber akute Gefährdung zu mindern, sowie den Klienten für eine weitere Zusammenarbeit zu motivieren. Inhaltlich erfolgt eine Klärung der die Krise bedingenden Faktoren – äußere Faktoren und solche, die in der Persönlichkeit des Klienten liegen – und der Frage, wie es unmittelbar weitergeht, d. h. wie der Betroffene die kommenden Stunden und Tage verbringt, welche Handlungen er unternimmt bzw. unterlässt und in welchem Ausmaß er sich auf eine weitere Krisenberatung einlassen kann. Krisenintervention zielt ausdrücklich nicht auf eine rasche Konfliktlösung, sondern – im Gegenteil – darauf, die Lösung der Krise so lange wie möglich offen zu halten.

Nov 5, 2016 | Posted by in CRITICAL CARE | Comments Off on Beratung bei Suizidgefährdung

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